25.5 Jahre Gleichstellungsgesetz – Q&A mit Dr. Irène Suter-Sieber

Das Gleichstellungsgesetz (GlG) feiert dieses Jahr seinen 26. Geburtstag; es trat am 1. Juli 1996 in Kraft. Die letzte Revision des GlG führte per 1. Juli 2020 die Lohngleichheitsanalyse ein. Wir nehmen in diesem Q&A mit Dr. Irène Suter-Sieber, Fachanwältin SAV Arbeitsrecht und Partnerin bei Walder Wyss – als Geburtstagsgeschenk für das GlG – eine aktuelle Bestandesaufnahme zum GlG vor und besprechen dabei auch verschiedene neuere Urteile des Bundesgerichts. Bei diesem Artikel handelt es sich um einen einen Repost zum Weltfrauentag aus der letzten LAWSTYLE-Printausgabe 2021.

Interview: Boris Etter / Fotos: Andrea Monica Hug

Sehr geehrte Frau Kollegin Dr. Irène Suter-Sieber, 25.5 Jahre sind eine lange Zeit, was ist Ihr erster Gedanke zum runden Geburtstag des Gleichstellungsgesetzes (GlG)?

2021 war ein grosses Jubiläumsjahr in der Frauenrechtsbewegung: Ein halbes Jahrhundert Frauenstimmrecht, 40 Jahre Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung und ein Vierteljahrhundert GlG. Ausserdem schrieben wir das Jahr Null bezüglich Gender-Quoten in Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten börsenkotierter Gesellschaften. Das GlG war einer von vielen wichtigen Meilensteinen auf dem Weg zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern.

Per 1. Juli 2020 erfolgte die Revision des GlG und die Einführung der Lohngleichheitsanalyse. Wie kam es dazu und welches sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit der Lohngleichheitsanalyse?

Frauen verdienen noch immer weniger als Männer. In den letzten Jahren hat sich der Gender Pay Gap allerdings verringert, von rund 16% in den Nullerjahren auf jüngst rund 11%. Ein Teil des Lohndeltas ist mit objektiven Kriterien erklärbar, z.B. mit Ausbildung, Qualifikation, Erfahrung, konkretem Aufgabenbereich etc. Ein gewichtiger Teil (rund 45%) jedoch nicht. Das heisst, dass dieser unerklärte Lohnunterschied einzig auf den (un)conscious gender bias zurückgeführt werden kann, also eine potenzielle Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

Mit der Einführung der Lohngleichheitsanalyse beabsichtigte der Gesetzgeber, dass sich der Gender Pay Gap in der Arbeitswelt weiter verringert. Die Lohngleichheitsanalyse ist eine skurrile Gesetzesnovelle, weil sie auf den ersten Blick zahnlos anmutet, im Ergebnis aber durchaus effektiv ist. Das Gesetz ist befristet und tritt 2032 automatisch ausser Kraft. Es auferlegte allen Arbeitgeberinnen mit mehr als 100 Arbeitnehmenden (das betrifft ca. 46% aller Arbeitnehmenden) die Pflicht, bis Mitte 2021 eine Lohngleichheitsanalyse durchzuführen. Lohngleichheit ist gewährleistet, wenn die unerklärbare Differenz zwischen Männer- und Frauenlöhnen die Toleranzschwelle nicht überschreitet. Besteht die Arbeitgeberin den Test, ist sie von künftigen Lohngleichheitsanalysen befreit. Besteht sie nicht, hat sie die Analyse vier Jahre später zu wiederholen.

Das mutet in der Tat zahnlos an. Inwiefern zeitigt das Gesetz denn nun Wirkung?

Abgesehen von der eben erwähnten Wiederholungspflicht besteht die härteste Sanktion des Gesetzes darin, dass die Arbeitgeberin das Resultat gegenüber ihren Arbeitnehmenden kommunizieren muss. Börsenkotierte Unternehmen müssen das Resultat sogar im Anhang zur Jahresrechnung offenlegen. Dieses Reputationsrisiko hat in der Praxis dazu geführt, dass viele betroffene Unternehmen schon im letzten Jahr damit begonnen haben, Dryruns von Lohngleichheitsanalysen durchzuführen. Wurden im Zuge solcher Probeläufe Lohnungleichheiten festgestellt, liess sich dies noch rechtzeitig vor der harten Frist Mitte 2021 beheben (i.d.R. über Lohnerhöhungen für unterbezahlte Arbeitnehmerinnen).

Dann gehen Sie also davon aus, dass es gar nicht in so vielen Fällen zur Kommunikation negativer Ergebnisse aus der Lohngleichheitsanalyse kommen wird?

Davon bin ich überzeugt, auch wenn genaue Prognosen natürlich noch nicht möglich sind. Wir dürfen sehr gespannt sein auf die nächste Lohnstrukturerhebung des Bundes (2022). Darin werden sich die Resultate der Lohngleichheitsanalyse spiegeln.

Das Bundesgericht erklärte im Urteil 4A_33/2021 vom 19. Juli 2021 (E.3.1, mit Hinweisen auf die bisherige Rechtsprechung), dass Lohnvergleiche als Basis für den Nachweis einer Lohndiskriminierung nach dem GlG grundsätzlich nur «innerbetrieblich», d.h. bei der von derselben Arbeitgeberin angestellten Personen, gelten. Vergleiche der von zwei verschiedenen Arbeitgebern ausbezahlten Löhne können gemäss Bundesgericht höchstens bei Verflechtungen zulässig sein, das heisst wenn die eine Arbeitgeberin auf das Lohnsystem der anderen Arbeitgeberin Einfluss nehmen kann. Der vorliegende Fall betraf eine Lohnungleichheit innerhalb eines Konzerns. Das Bundesgericht konnte die Frage allerdings offenlassen. Wie sieht es generell bei Klagen bezüglich Lohndiskriminierungen in Konzernverhältnissen aus?

Es ist bedauerlich, dass sich das Bundesgericht in diesem Urteil nicht vertieft zur Frage äussern musste, welche Regeln bezüglich Lohngleichheit innerhalb des Konzerns gelten. Denn der Arbeitnehmer war schon an der Glaubhaftmachung der Lohndiskriminierung gescheitert, weil die Arbeitnehmerin (CFO der Gruppe), mit welcher er sich verglich, eine andere Funktion ausübte als er. Bislang hatte sich die Problematik der Verflechtung von Lohnsystemen meines Wissens nur im öffentlich-rechtlichen Bereich gestellt, wenn Gemeinden auf das Lohnsystem des Kantons verwiesen. Ob Konzernverhältnisse Lohndiskriminierungsklagen begünstigen, wage ich auch nach dem von Ihnen erwähnten Bundesgerichtsurteil zu bezweifeln. Die Gruppengesellschaften von Konzernen befinden sich in der Regel in verschiedene Jurisdiktionen. Die Lohnsysteme müssen sich primär am lokalen Markt orientieren. Der direkte Lohnvergleich im Konzern dürfte m.E. deshalb regelmässig daran scheitern, dass es am Nachweis einheitlicher Konzern-Lohnrichtlinien fehlt.

Im Urteil A_636/2020 vom 20. Juli 2021 (die Arbeitgeberin wurde durch Dr. Ueli Sommer und von Simone Wetzstein von Walder Wyss vertreten) befasste sich das Bundesgericht eingehend mit den Beweislastregeln von Art. 6 GlG. Das Bundesgericht erklärte in diesem interessanten Urteil auch, dass es sich bei Art. 6 GlG um eine Beweislasterleichterung handle, welche «als Spezialbestimmung der Beweisregel von Art. 8 ZGB vorgeht» (E. 2.2). Was hat das Bundesgericht in diesem Fall konkret entschieden?

Art. 6 GlG führt im Normalfall dazu, dass zunächst die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer glaubhaft machen muss, dass eine Lohndiskriminierung vorliegt. Gelingt ihr/ihm das, obliegt der Arbeitgeberin der volle Beweis, dass der Lohnunterschied auf objektiven Gründen beruht. Im Bundesgerichtsentscheid, den Sie angesprochen haben, hat das Bundesgericht eine Abkürzung genommen. Es ging gar nicht auf die Thematik der Glaubhaftmachung ein, weil es den Gegenbeweis der Arbeitgeberin für erbracht hielt. Die Arbeitgeberin hatte erfolgreich behauptet, die Aufgaben der Arbeitnehmerin und ihres Vorgängers seien nicht gleichwertig gewesen und er habe mehr Verantwortung getragen. Deshalb erachtete das Bundesgericht den Lohnunterschied für gerechtfertigt.

Ab dem 1. Mai 2021 führte der Kanton Basel-Stadt Lohngleichheitskontrollen bei Beschaffungen ein. Zuständig für die Umsetzung ist die Abteilung Gleichstellung von Frauen und Männern. Das System beruht sowohl auf Selbstdeklarationen als auch auf Stichprobenkontrollen. Dadurch soll die Einhaltung des GlG gewährleistet werden. Wie beurteilen Sie diesen Basler Vorstoss?

Der Kanton Basel-Stadt ist einer der ersten Kantone in der Deutschschweiz, der Lohngleichheitskontrollen im Beschaffungswesen einführte. Er nimmt damit in Gleichstellungsfragen eine Vorreiterrolle ein. Lohngleichheitskontrollen im Beschaffungswesen gibt es allerdings auf Bundesebene schon lange. Das Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen von 1994 sieht vor, dass nur diejenigen Anbieterinnen und Anbieter den Auftrag erhalten, welche für ihre männlichen und weiblichen Mitarbeitenden Lohngleichheit gewährleisten. Zudem hat der Bundesrat 2016 die Charta der Lohngleichheit im öffentlichen Sektor lanciert. Bis heute ist die Charte von 17 Kantonen, 120 Gemeinden, dem Bund und 67 staatsnahen Betrieben (darunter z.B. die SBB und die Swisscom) unterzeichnet worden. Die Unterzeichnenden haben sich verpflichtet, sich in ihrer Rolle als Arbeitgeberinnen, aber auch im öffentlichen Beschaffungs- und/oder Subventionswesen für die Lohngleichheit einzusetzen.

Erleben Sie solche Bestrebungen auch im privatrechtlichen Bereich?

Die Massnahmen der Behörden im Beschaffungswesen haben natürlich unmittelbare Reflexwirkungen auf die Privatwirtschaft. Im Rahmen von Diversity&Inclusion-Programmen haben sich zunächst vor allem grössere Unternehmen mit der Gewährleistung von Lohngleichheit auseinandergesetzt. Und spätestens seit der Einführung der Lohngleichheitsanalyse im GlG steht die Thematik in allen Unternehmen der Privatwirtschaft ab 100 Mitarbeitenden auf der Agenda.

Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung würde ich zu behaupten wagen, dass Schlichtungsbehörden nach dem GlG besonders gründlich und engagiert die Fälle angehen und durchaus auch Arbeitgeberinnen «die Leviten lesen». Was meinen Sie dazu?

Eine sehr treffende Beschreibung. Das erleben ich und viele meiner Arbeitsrechtskolleginnen und -kollegen in der Regel genau gleich. Allerdings haben die Schlichtungsbehörden nur sehr beschränkt Entscheidkompetenz. Trotzdem haben sie eine sehr wichtige Funktion und erzielen im grössten Teil der Fälle eine vergleichsweise Einigung.

«Diversity» ist heute eines der zentralen Themen im Schweizer Arbeitsrecht. Im BGE 145 II 153 vom 5. April 2019 erklärte das Bundesgericht, nach eingehender Auseinandersetzung mit verschiedenen Lehrmeinungen, dass das GlG die gesetzliche Gleichstellung von Frau und Mann bezwecke und mithin «Geschlechterspezifität» vorausgesetzt werde (E. 4.5.1). So fällt unter Art. 3 Abs. 1 GlG die Diskriminierungen wegen sexueller Orientierung ausser Betracht. Erwarten Sie, dass das Bundesgericht diese Frage eines näheren oder ferneren Tages mit einer Praxisänderung anders entscheiden könnte?

Das Bundesgericht hat in diesem Urteil den Ball – meines Erachtens zu Recht – dem Gesetzgeber zurückgespielt. Denn das GlG will nach seinem Zweckartikel die tatsächliche Gleichstellung von «Frau und Mann» erreichen. Auch der Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 GlG lässt keinen Spielraum zu («Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürfen aufgrund ihres Geschlechts weder direkt noch indirekt benachteiligt werden»). Die Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung hat nichts mit dem Geschlecht zu tun und das GlG kann deshalb nicht schützen gegen die Diskriminierung Homo- oder Bisexueller bei der Anstellung, Entlöhnung, Beförderung, Entlassung etc. Anders dürfte es sich meines Erachtens aber bei Diskriminierungstatbeständen aufgrund der Transidentität von Arbeitnehmenden verhalten, weil das Geschlecht hier sehr wohl eine Rolle spielt (z.B. bei Kündigung wegen Geschlechtsumwandlung). Und immerhin gilt, dass das GlG nach Art. 4 GlG alle Menschen (unabhängig ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität) vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz schützt. Das ist unterdessen herrschende Praxis und Lehre (wenn auch höchstrichterlich noch nicht bestätigt).

Werden Fälle von «Diversity» aktuell ausschliesslich unter Art. 328 OR subsumiert?

Mit den oben genannten Ausnahmen: grundsätzlich ja. Solche Fälle werden also gleich behandelt wie andere Fälle von Persönlichkeitsverletzungen im Rahmen des Arbeitsverhältnisses, z.B. bei Diskriminierung aufgrund der Religion, Nationalität oder Ethnie. Das heisst also nicht, dass das Gesetz keinen Schutz bieten würde, nur eben nicht jenen aus dem GlG. In Frage kommen zum Beispiel Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche bei persönlichkeitsverletzender Nichtanstellungen aus Art. 28 ff. ZGB, der Missbrauchsschutz bei persönlichkeitsverletzender Kündigung nach Art. 336 OR und allenfalls sogar ein Anspruch auf Gleichbehandlung (z.B. bei Bonuszahlungen), wenn ein Einzelner oder eine Einzelne aufgrund eines solchen Merkmals gegenüber allen anderen schlechter behandelt wird.

Rechtlich klar ist, dass sich auch Männer als diskriminierte Arbeitnehmende auf das GlG berufen können. In den letzten Jahren sind auch verschiedene entsprechende Urteile des Bundesgerichts ergangen (vgl. etwa Urteil 4A_33/2021 vom 19. Juli 2021, Urteil 8C_594/2018 vom 5. April 2019 und Urteil 8C_420/2019 vom 20. Februar 2020). Häufen sich nun diese Fälle in Ihrer Praxis?

Nein, die Klagen von Männern bilden immer noch die Ausnahme. Gemäss öffentlich zugänglichen Daten machen die Klagen von Männern nur (aber immerhin) rund 10% aller Fälle aus. Häufig handelt es sich dabei um Fälle sexueller Belästigung von Männern, um Klagen wegen Anstellungsdiskriminierung von Männern (z.B. der Kleinkindererzieher, welcher die Stelle in der Kinderkrippe wegen seines Geschlechts nicht erhält) oder um Klagen von Männern in typischen Frauenberufen wegen Lohndiskriminierung (z.B. Pfleger, Sekretäre). Erst jüngst, am 10. September 2021, ist ein Bundesgerichtsentscheid ergangen (BGer 8C_180/2021), dem die Klage eines therapeutischen Psychologen gegen seine Arbeitgeberin zugrunde lag. Er brachte vor, der Kanton Zürich habe den Beruf der Psychologinnen und Psychologen in eine zu tiefe Lohnklasse eingereiht. Bereits im Vorgängerentscheid (BGer 8C_420/2019 vom 20. Februar 2020) hatte das Bundesgericht festgestellt, dass es sich beim Beruf der Psychologinnen und Psychologen um einen typischen Frauenberuf handle, da der Frauenanteil mehr als 70 % betrage. Bei den vom Kläger genannten, besserbezahlten Vergleichsberufen (Ingenieur, Revisor, Steuerkommissär) handle es sich demgegenüber um männlich definierte Tätigkeiten. Das Bundesgericht gab dem Kläger insofern Recht, als es feststellte, dass er glaubhaft gemacht habe, dass eine Lohndiskriminierung vorliege. Die Vorinstanz habe zu Unrecht die Prüfung der Lohndiskriminierung bezüglich des Kriteriums der Ausbildung unterlassen. Diesbezüglich sei zu beachten, dass die Stelle des Klägers ein sehr anspruchsvolles Hochschulstudium voraussetze, was für die drei Vergleichsberufe nicht oder zumindest nicht im gleichen Mass gefordert sei. Das Bundesgericht wies die Sache deshalb an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich zurück. Dieses wird neu über den Fall zu entscheiden haben.

Jüngst war in den Massenmedien zu lesen, dass es Schweizer Unternehmen gibt, welche Stellen in weiblicher Form ausschreiben, um die Anzahl von Bewerberinnen zu erhöhen. Wie gross schätzen Sie die Gefahr ein, dass solche Arbeitgeberinnen sich damit rechtliche Risiken von Anstellungsdiskriminierungen nach Art. 8 GlG einhandeln?

Im Fall, den Sie erwähnen, war das Stelleninserat sehr sorgfältig redigiert. Gesucht wurde eine «Relationship Managerin (w/m/d)» und weiter hiess es, dass natürlich auch Bewerbungen von interessierten Männern entgegengenommen würden. Das Stelleninserat bot zwar Angriffsfläche, aber lieferte keinen Steilpass für Klagen von Männern wegen Anstellungsdiskriminierung. Hinzu kommt, dass das Diskriminierungsverbot aus dem GlG auf das Stelleninserat selbst keine Anwendung findet. Das Stelleninserat kann höchstens als Indiz in einem späteren Diskriminierungsprozess dienen. Nach Art. 8 GlG dürfen Personen, die einen Job nicht erhalten haben, von der Arbeitgeberin eine schriftliche Begründung dafür verlangen. Die Arbeitgeberin ist natürlich schlecht beraten, wenn sie die Ablehnung einer Person mit deren Geschlecht begründet, statt mit sachlichen Gründen. Genau so ist es allerdings einer Arbeitgeberin im Kanton Graubünden ergangen. Sie erklärte die Ablehnung einer Bewerberin für eine Rezeptionsstelle damit, dass «man schon genug Damen angestellt» habe (Kantonsgericht Graubünden, Urteil ZK 14 18 vom 16. September 2014).

Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Dinge in Sachen Diskriminierung durch sexuelle Belästigung nach Art. 4 GlG in den Schweizer Unternehmen – es dürfte anzunehmen sein, dass eine erhebliche Dunkelziffer besteht, welche durch Vergleiche mit Stillschweigevereinbarungen erledigt wird?

Wenn Sie nach der Dunkelziffer fragen, müssen wir uns die Statistiken anschauen: In der Entscheiddatenbank der Fachstelle für Gleichstellung in der Deutschschweiz sind seit dem Inkrattreten des GlG total rund 260 Fälle sexueller Belästigung erfasst, die es zumindest bis vor die Schlichtungsbehörde geschafft haben. Gemäss einer Evaluation des EGB für die Jahre 2004-2015 wurden von kantonalen Gerichten 35 Urteile zur sexuellen Belästigung nach GlG gefällt. Dem stehen die Zahlen aus dem Erwerbsalltag gegenüber: In einer Studie des EGB und des SECO aus dem Jahr 2007 gaben 28% der befragten Frauen und 10% der befragten Männer an, sich im Erwerbsleben schon einmal sexuell belästigt gefühlt zu haben. Diese Daten spiegeln sich in einer Studie, die Amnesty International 2019 in Auftrag gegeben hat. Sie ergab, dass 33% der befragten Frauen am Arbeitsplatz schon einmal von sexueller Belästigung betroffen waren. Die Dunkelziffer ist also enorm. Die allermeisten betroffenen Personen eskalieren solche Situationen also nicht bis vor Schlichtungsbehörde oder gar Gericht. Die Erklärung dafür liegt wohl darin, dass sich viele Betroffene mit der Situation abfinden. Hinzu kommt, dass solche Gerichtsfälle für die Opfer nicht nur emotional sehr belastend, sondern auch prozessual sehr hürdenreich sind. Gemäss der eben erwähnten Studie liegt die Misserfolgsquote bei über 80%. Sexuelle Belästigung passiert oft unter vier Augen. Es steht dann Aussage gegen Aussage und anders als bei der Kündigung und der Lohndiskriminierung greift die Beweislasterleichterung nach Art. 6 GlG bei der sexuellen Belästigung nicht. Das Opfer hat also den vollen Beweis zu erbringen, dass und von wem es sexuell belästigt wurde.

Wie hat sich der (wohl bleibende) Trend zum (partiellen) Homeoffice auf die Gefahren von sexueller Belästigung nach Art. 4 GlG ausgewirkt, wo die Grenzen zwischen privat und geschäftlich verwischen können?

Das ist schwierig zu beurteilen. Sexuelle Belästigung setzt wohl ein gewisses Mass an physischer Präsenz zwischen den Menschen voraus. Zoom, Teams und ähnliche Tools schaffen Distanz. Das dürfte – sofern der Trend zu Remote Work anhält – durchaus dazu führen, dass die Zahl der Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz abnimmt.

Ein in der arbeitsrechtlichen Praxis mit Fallstricken behaftetes Thema bei sexueller Diskriminierung sind Betriebsfeste. Es stehen ja nun teilweise Events zu den Festtagen in den Unternehmen an. Könne Sie hier eine Liste der Dos und Don‘ts geben?

Ganz grundsätzlich muss die Arbeitgeberin im Betrieb ein Klima schaffen, das sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz schon gar nicht erst zulässt. Solche Präventionsmassnahmen sind insbesondere das Implementieren und aktive Kommunizieren von Codes of Conduct. In solchen Codes of Conduct hält das Unternehmen fest, dass es sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht toleriert und welche Sanktionen drohen. Empfehlenswert ist die Einrichtung einer Meldestelle, bei der auch anonym Meldung erstattet werden kann. Die Arbeitgeberin sollte bei Vorfällen ausserdem tatsächlich reagieren und Massnahmen ergreifen. Zumindest grössere Unternehmen sollten regelmässige Schulungen zur Prävention sexueller Belästigung durchführen. Sind solche allgemeine Verhaltensregeln und Präventionsmassnahmen implementiert, wirkt sich dies auch auf das Verhalten der Mitarbeitenden an Betriebsfesten aus. Und natürlich sollte die Arbeitgeberin an Betriebsfesten keinen zusätzlichen Nährboden für belästigendes Verhalten schaffen.

Zürich scheint München den Rang als Hochburg der Oktoberfeste ja schon länger abgelaufen zu haben (dieses Jahr aus nachvollziehbaren Gründen natürlich stark reduziert). Sind Oktoberfeste aus der Perspektive von Art. 4 GlG eine zu empfehlende Arte des Betriebsfestes?

Die Arbeitgeberin muss sich ihrer Verantwortung, sexuelle Belästigung zu verhindern, auch am Betriebsfest bewusst sein. Die Fürsorgepflicht der Arbeitgeberin beschränkt sich nämlich nicht auf den physischen Arbeitsplatz, sondern auch auf Begegnungen in der Freizeit, wenn sich das auf das Arbeitsverhältnis auswirken kann. Die Arbeitgeberin will und muss aber keine Spassbremse sein. Zentral ist, dass klar ist, welche Verhaltensweisen nicht toleriert werden. Leitende Personen müssen einschreiten, z.B. die open bar schliessen, wenn sich abzeichnet, dass Grenzen überschritten werden.

Wie sollen Fälle von behaupteten sexuellen Diskriminierungen durch Arbeitgeberinnen angegangen werden? Insbesondere, sind interne Untersuchungen zunehmend ein Muss?

Eine durchsetzbare Pflicht zur Untersuchung gibt es noch nicht, aber die Durchführung einer Untersuchung wird heute in der Regel erwartet und gehört zur Corporate Governance. Im Rechtssinne handelt es sich um eine Obliegenheit. Zufolge ihrer Fürsorge- und Gesundheitsschutzpflicht hat die Arbeitgeberin nicht nur das Opfer zu schützen, sondern auch den Rest der Belegschaft, weil unter Umständen künftig betroffen, und schliesslich auch jene Person, die zu Unrecht der sexuellen Belästigung bezichtigt wird. Handelt die Arbeitgeberin gar nicht oder zu spät, kann das Schadenersatz- und Genugtuungsklagen nach sich ziehen, ein Verdachtskündigung kann sich als missbräuchlich herausstellen oder die Ignoranz kann sich in einem späteren Prozess betreffend sexuelle Belästigung negativ auswirken, weil der Arbeitgeberin der Entlastungsbeweis nach Art. 5 Abs. 3 GlG nicht gelingt. Zentral ist, dass interne Untersuchungen betreffend sexuelle Belästigung sorgfältig und mit der nötigen Umsicht geführt werden, da sehr sensitive Themen und Personendaten betroffen sind. Wenn die sexuelle Belästigung einen Schweregrad erreicht, der strafrechtlich relevant sein könnte, stellt sich regelmässig die Frage, ob die Strafbehörden eingeschaltet werden sollen.

Und zum Schluss die folgende Frage: Wenn das GlG einer nächsten Revision unterzogen wird, welche Änderungen oder Ergänzungen würden Sie wünschen?

Die oben erwähnte hohe Dunkelziffer bei der sexuellen Belästigung zeigt, dass das GlG in diesem Bereich den gewünschten Schutzzweck wohl nicht erreicht. Die Opfer haben offensichtlich Angst, während laufendem Arbeitsverhältnis gegen Diskriminierungen vorzugehen und fürchten die Unwägbarkeiten, die mit dem Zivilprozess einhergehen, nicht zuletzt die Bürde der Beweislast. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, ob die Bussenbeträge zu tief sind und ob es notwendig ist, die Behörden mit Untersuchungs- und Durchsetzungskompetenzen auszustatten.

Mit Ausnahme der Lohngleichheitsanalyse und der Obliegenheit, Massnahmen gegen sexuelle Belästigung zu implementieren, ist die Arbeitgeberin aus dem GlG nicht verpflichtet, aktiv Massnahmen zur Förderung der tatsächlichen Gleichstellung zu ergreifen. Viele, v.a. grössere Unternehmen nehmen diese Verantwortung aus eigener Initiative bereits wahr. Reformansätze für das GlG sind z.B. die Einführung von positiven Pflichten zur Gleichstellungsförderung verbunden mit Anreizstrukturen oder Sanktionen sowie der Ausbau des Beratungsangebotes für Arbeitgeberinnen.

Überlegenswert ist ausserdem, ob es im Zivilprozess Anpassungsbedarf gibt. Es kommt häufig vor, dass Arbeitnehmende nicht nur Ansprüche aus dem GlG, sondern gleichzeitig auch weitere arbeitsrechtliche Ansprüche geltend machen (z.B. Überstunden, Ferienansprüche, Boni etc.). In solchen Fällen kommt es regelmässig zu einer Zweiteilung des Prozesses. So müssen die Ansprüche aus dem GlG nicht von der ordentlichen, sondern von der paritätischen Schlichtungsbehörde behandelt zu werden, sofern die klagende Partei nicht darauf verzichtet. Hinzu kommt, dass bei Streitigkeiten aus dem GlG unabhängig vom Streitwert das vereinfachte Verfahren zur Anwendung kommt. Sonstige Ansprüche aus dem Arbeitsrecht werden ab einem Streitwert über CHF 30‘000 im ordentlichen Verfahren behandelt. Damit nicht zwei separate Prozesse geführt werden müssen, wird sich die klagende Partei gezwungen sehen, Teilklage einzureichen (sofern das überhaupt möglich ist).

Potenziellen Reformbedarf sehe ich schliesslich beim Wiedereinstellungsanspruch und der Strafzahlung bei der Rachekündigung nach Art. 10 GlG. Der Fall der Ärztin Nathalie Urwyler hat gezeigt, dass in Verhältnissen, die sich nicht mehr kitten lassen, die Freistellung der Arbeitnehmerin mit ihrem Wiedereinstellungsanspruch kollidieren kann. Im vorliegenden Fall verlangt die Ärztin nach abgeschlossenem Erstprozess vom Spital in einem Zweitprozess nun Schadenersatz von rund CHF 5 Millionen für entgangenen Lohn bis zum Lebensende (der Fall ist noch nicht entschieden). Hätte die Ärztin auf Wiedereinstellung verzichtet, beschränkte sich ihr Anspruch auf maximal sechs Monatslöhne. Das Konzept der Wiedergutmachung bei Rachekündigungen im GlG scheint mir unausgeglichen. Die Durchsetzung der Wiedereinstellung ist für beide Parteien mit Rechtsunsicherheiten und einem langen und schwierigen Prozessweg verbunden. Das Gesetz sollte Diskriminierungen zwar verhindern, aber auch nicht übermässig lange und komplexe Zivilprozesse fördern.

Sehr geehrte Frau Kollegin, besten Dank für dieses sehr interessante Gespräch. Wir freuen uns schon auf die Resultate der Lohngleichheitsanalyse im  Jahr 2022.

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