Vorschulische Sprachförderung im Kanton Thurgau: Kostenbeteiligung der Erziehungsberechtigten nicht zulässig

Das mit der kantonalen Gesetzesvorlage zur vorschulischen Sprachförderung im Kanton Thurgau eingeführte Obligatorium zum Besuch eines Förderangebots wird vom verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht erfasst. Die Erziehungsberechtigten, deren Kinder zum Besuch eines Angebots der vorschulischen Sprachförderung verpflichtet werden, müssen sich daher gemäss Urteil des Bundesgerichts 2C_402/2022 vom 31. Juni 2023 nicht an den Kosten beteiligen.

Der Grosse Rat des Kantons Thurgau führte 2022 im kantonalen Volksschulgesetz eine vorschulische Sprachförderung ein. Sie gilt für Kinder, die bis Ende Juli des jeweiligen Jahres drei Jahre alt werden und die einen sprachlichen Förderbedarf aufweisen. Die Gesetzesvorlage sieht vor, dass von den Erziehungsberechtigten der betroffenen Kinder ein einkommensabhängiger Beitrag von maximal 800 Franken pro Jahr gefordert werden kann. Ausserdem sind die Erziehungsberechtigten für den Weg zum Förderangebot verantwortlich.

Das Bundesgericht heisst im Urteil 2C_402/2022 vom 31. Juni 2023 eine gegen die kantonale Gesetzesvorlage erhobene Beschwerde gut und hebt die Regelungen zur Kostenbeteiligung sowie zum Schulweg auf. Die Sprachförderung ist mit einer obligatorischen Abklärung der sprachlichen Fähigkeiten aller Kinder einer Altersgruppe verbunden. Potenziell sind damit alle im Kanton Thurgau wohnhaften Kinder von der Pflicht zum Besuch der vorschulischen Sprachförderung betroffen. Daran ändert nichts, dass letztlich nur Kinder zum Besuch der Sprachförderung verpflichtet werden, bei denen ein sprachlicher Förderbedarf besteht. Da mit der Gesetzesvorlage die (allgemeine) Schulpflicht auf die Kinder der betroffenen Altersgruppe ausgeweitet wird, sind die Regelungen zur Kostenbeteiligung sowie zum Schulweg nicht mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht vereinbar.

Hier sind einige der Schlüsselausführungen des Bundesgerichts aus dem Urteil 2C_402/2022 vom 31. Juni 2023:

«In diesem Sinne gilt rechtsprechungsgemäss, dass der Kindergarten vom Anwendungsbereich von Art. 19 BV und dem Anspruch auf Unentgeltlichkeit erfasst wird, soweit er obligatorisch ist (vgl. BGE 146 I 20 E. 4.2; 145 I 142 E. 5.4; 140 I 153 E. 2.3.1; Urteile 2C_733/2018 vom 11. Februar 2019 E. 5.2.1; 2C_433/2011 vom 1. Juni 2012 E. 3.3). Gleich muss es sich mit der vorliegend zu beurteilenden obligatorischen, vorschulischen Sprachförderung verhalten. Der Kanton Thurgau hat sich dazu entschieden, diese Förderungsmassnahme verpflichtend auszugestalten. Die Gesetzesvorlage unterscheidet sich damit von Angeboten, die freiwillig in Anspruch genommen werden können – wie beispielsweise die anderweitige Frühförderung, der freiwillige Kindergarten oder die fakultative Spielgruppe. Soweit die Beschwerdegegner im Übrigen auf die „sprachliche Förderung in Deutsch vor der Einschulung“ im Kanton Basel-Stadt Bezug nehmen, ist darauf hinzuweisen, dass die dortige Verpflichtung zur frühen Deutschförderung unentgeltlich ausgestaltet ist (vgl. § 4 i.V.m. § 11 Abs. 1 der Verordnung des Kantons Basel-Stadt vom 26. April 2016 über die sprachliche Förderung in Deutsch vor der Einschulung [SG 412.400]). Die Beschwerdeführer machen somit zu Recht gelten, dass die obligatorische Ausgestaltung der vorschulischen Sprachförderung die Unentgeltlichkeit des zwingend zu besuchenden Angebots nach sich ziehen muss.» (E.3.5.1).

«Hinzu kommt, dass die Einführung der vorschulischen Sprachförderung in ihrer Wirkung dazu führen soll, dass die betroffenen Kinder im Rahmen des darauffolgenden (obligatorischen) Kindergartens sowie der Primar- und Sekundarschule von einer verbesserten „Chancengerechtigkeit“ profitieren. Mit der Einführung der vorschulischen Sprachförderung sollen gewissermassen die nachfolgenden Schulstufen von später notwendig werdenden Massnahmen, wie zusätzlichen Sprachkursen, entlastet werden, die zur Gewährleistung der Chancengleichheit erforderlich wären. Das Bundesgericht hat allerdings bereits festgehalten, dass es mit Art. 19 BV, der auch die Wahrung der Chancengleichheit bezweckt, nicht vereinbar ist, für den zusätzlichen Sprachunterricht Kosten zu erheben (vgl. BGE 144 I 1 E. 3.2.3). Dieser Grundsatz gilt auch für den notwendigen Sprachunterricht, der vorgängig erfolgt, damit dieser später nicht zusätzlich und parallel zum übrigen Grundschulunterricht stattfinden muss. Dementsprechend erweist sich die in § 41c Abs. 3 VG/TG vorgesehene Kostenbeteiligung der Erziehungsberechtigten für das obligatorisch von ihren Kindern zu besuchende Angebot der vorschulischen Sprachförderung als verfassungswidrig.» (E.3.5.2)

«Aus der in Art. 19 BV garantierten Unentgeltlichkeit ergibt sich überdies auch ein Anspruch auf Übernahme der Transportkosten, wenn der Schulweg wegen übermässiger Länge oder Gefährlichkeit dem Kind nicht zugemutet werden kann (vgl. BGE 140 I 153 E. 2.3.3; 133 I 156 E. 3.1; Urteile 2C_714/2021 vom 8. Juni 2022 E. 5.1; 2C_1022/2021 vom 6. April 2023 E. 5.3 i.f.; 2C_1063/2015 vom 16. März 2017 E. 4.2; 2C_433/2011 vom 1. Juni 2012 E. 3.2). § 41c Abs. 2 VG/TG, wonach die Erziehungsberechtigten für den Weg zu einem Angebot der vorschulischen Sprachförderung verantwortlich sind, ist in seiner absoluten Formulierung ebenfalls nicht mit Art. 19 BV vereinbar, zumal sich das Angebot der vorschulischen Sprachförderung im Wesentlichen an 4-jährige Kinder richtet. Aufgrund der verpflichtenden Ausgestaltung der vorschulischen Sprachförderung ist der Beschwerdegegner gehalten, die ortsnahe und angemessene Erreichbarkeit der obligatorischen Angebote in der jeweiligen Schulgemeinde sicherzustellen oder aber für die Transportkosten aufzukommen.» (E.3.5.3)

«Nach dem Dargelegten verstösst die kantonale Regelung in § 41c Abs. 2 und Abs. 3 VG/TG gegen den Anspruch auf Unentgeltlichkeit und ist unter dem Gesichtspunkt von Art. 19 BV einer verfassungskonformen Auslegung nicht zugänglich. § 41c Abs. 2 und Abs. 3 VG/TG sind dementsprechend aufzuheben.  Ob daneben, wie von den Beschwerdeführern gerügt, auch weitere verfassungsmässige Rechte – namentlich Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 BV, Art. 9 BV, Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 13 Abs. 1 BV oder Art. 18 BV – verletzt sind, kann damit offenbleiben.» (E.3.6)

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