Pflicht zum Vorbezug von Freizügigkeitsguthaben und Anspruch auf Sozialhilfeleistungen

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 8C_333/2023 vom 1. Februar 2024 zum Verhältnis der Pflicht zum Vorbezug von Freizügigkeitsguthaben der beruflichen Vorsorge und dem Anspruch auf Sozialhilfeleistungen. Sozialhilfebeziehende können demnach nicht verpflichtet werden, sich Freizügigkeitsguthaben mit 60 Jahren vorzeitig auszahlen zu lassen, wenn dieses beim Erreichen der Altersgrenze von 63 Jahren zum Vorbezug der AHV-Rente bereits aufgebraucht wäre. Die Höhe des Mittelverbrauchs misst sich dabei an der Bedarfsberechnung für Ergänzungsleistungen.

Sachverhalt

Ein heute 64 Jahre alter Mann bezog ab 2013 Leistungen der Sozialhilfe. Die Sozialhilfebehörde seiner Wohngemeinde stellte die Sozialhilfeleistungen 2022 ein und forderte 78’000 Franken zurück. Sie begründete dies damit, dass der Betroffene ihr gegenüber sein Freizügigkeitskonto verschwiegen habe. Dieses Guthaben hätte er mit 60 Jahren per April 2019 beziehen können; in diesem Fall wäre er nicht mehr von Sozialhilfe abhängig gewesen.

Instanzenzug

Der Regierungsrat und anschliessend das Kantonsgericht des Kantons Basel-Landschaft bestätigten den Entscheid.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 8C_333/2023 vom 1. Februar 2024

Das Bundesgericht heisst im Urteil 8C_333/2023 vom 1. Februar 2024 die Beschwerde des Betroffenen gut. Vorliegend geht es um die Frage, ob der Beschwerdeführer zu Unrecht Leistungen der Sozialhilfe bezogen hat, weil er verpflichtet gewesen wäre, sein Freizügigkeitskapital im frühestmöglichen Zeitpunkt (per April 2019, fünf Jahre vor Erreichen des Rentenalters) zu beziehen.

Die Sozialhilfe wird, wie das Bundesgericht bemerkt, vom Subsidiaritätsprinzip beherrscht; Unterstützungen werden demnach nur gewährt, soweit die bedürftige Person sich nicht selber helfen kann oder wenn Hilfe von dritter Seite nicht oder nicht rechtzeitig erhältlich ist. Gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien) geht der Schutz der Mittel aus der beruflichen Vorsorge (Vorsorgeschutz) dem Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich bis zum Bezug einer AHV-Rente vor. Zwar kann eine Pflicht zum Bezug von Vorsorgeguthaben mit 60 Jahren nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Es wäre jedoch mit dem vorsorgerechtlichen Zweck dieser Mittel nicht vereinbar, wenn das ausbezahlte Freizügigkeitsguthaben im Zeitpunkt des AHV-Bezugs bereits vollständig aufgebraucht wäre. Eine Verpflichtung zum vorzeitigen Bezug von Freizügigkeitsguthaben muss deshalb zumindest dann als unverhältnismässig gelten, wenn ein neuerlicher Rückfall in die Sozialhilfe droht, bevor das Alter von 63 Jahren für einen Vorbezug der AHV-Rente erreicht ist. Beim mutmasslichen Verbrauch des Freizügigkeitskapitals ist vom Bedarf gemäss der Berechnung für Ergänzungsleistungen auszugehen, der höher liegt als der sozialhilferechtliche Bedarf. Im konkreten Fall ergibt sich, dass das Freizügigkeitsguthaben des Betroffenen von rund 100’000 Franken (nach Steuern) bei einem Bezug mit 60 Jahren und jährlichen Ausgaben von rund 40’000 Franken nicht bis zum Vorbezug der AHV-Rente mit 63 Jahren gereicht hätte. Die Sozialhilfebehörde wäre damit nicht berechtigt gewesen, den Betroffenen zum Vorbezug seines Freizügigkeitsguthabens zu verpflichten. Er hat deshalb die Sozialhilfeleistungen ab 2019 rechtmässig bezogen. Für eine Rückforderung bleibt kein Raum.

Hier sind einige rechtliche Schlüsselausführungen des Bundesgerichts im Urteil 8C_333/2023 vom 1. Februar 2024:

«Die Sozialhilfe wird vom Subsidiaritätsprinzip beherrscht. Dementsprechend sieht der bereits zitierte § 5 Abs. 1 SHG vor, dass Unterstützungen nur gewährt werden, wenn die zumutbare Selbsthilfe oder die gesetzlichen, vertraglichen oder sonstigen Leistungen Dritter nicht ausreichen oder nicht rechtzeitig erhältlich sind. Für die Bemessung der Unterstützung sind Einkünfte einzubeziehen, bewegliches Vermögen zu veräussern und unbewegliches Vermögen zu belehnen oder zu veräussern. Belehnt oder veräussert die bedürftige Person ihr Vermögen nicht im festgelegten Umfang, wird die Unterstützung entsprechend eingeschränkt (§ 7 Abs. 1 und 2 SHG). Das Subsidiaritätsprinzip ist Ausdruck der Pflicht zur Mitverantwortung und Solidarität gegenüber der Gemeinschaft, wie sie in Art. 6 BV verankert ist (BGE 141 I 153 E. 4.2 mit Hinweisen; Urteile 8C_17/2023 vom 5. Oktober 2023 E. 4; 8C_717/2022 vom 7. Juni 2023 E. 10.1.2 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen; vgl. auch Art. 41 Abs. 1 BV).» (E.6.1).

«Gemäss Art. 113 Abs. 1 BV erlässt der Bund Vorschriften über die berufliche Vorsorge (zum Ganzen: BGE 148 V 114 E. 6.2.1). Nach Abs. 2 der nämlichen Bestimmung beachtet er dabei unter anderem den Grundsatz, dass die berufliche Vorsorge zusammen mit der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (AHV/IV) die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglicht (lit. a). Die Bestimmung des Art. 113 BV verleiht dem Bund in Abs. 1 eine konkurrierende, nicht auf den Erlass von Grundsätzen beschränkte, umfassende Gesetzgebungskompetenz für den Bereich der beruflichen Vorsorge. Welche Grundsätze der Bundesgesetzgeber bei der Ausgestaltung der beruflichen Vorsorge zu beachten hat, wird in Abs. 2 festgelegt, der die Tragweite der Gesetzgebungskompetenz nach Abs. 1 verdeutlicht und dem Gesetzgeber gewisse Vorgaben – unter anderem betreffend das Leistungsziel – macht. Diese Verfassungsbestimmung beinhaltet nach der Rechtsprechung einen blossen Auftrag an den Gesetzgeber, so dass daraus kein konkreter, klagbarer Leistungsanspruch auf eine Vorsorgeleistung abgeleitet werden kann (BGE 130 V 369 E. 6.1 mit zahlreichen Hinweisen auf das Schrifttum; vgl. ferner BGE 142 II 369 E. 5.3 sowie BGE 135 V 33 E. 4.2; MARC HÜRZELER/HANS-ULRICH STAUFFER, Basler Kommentar, Berufliche Vorsorge, Basel 2021, N. 13 zu Art. 113 BV). Das in diesem Sinne angestrebte Leistungsziel der Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise wird auf Verfassungsstufe betraglich nicht weiter festgelegt, doch existieren in den Materialien Hinweise auf entsprechende Vorstellungen (60 % des letzten Brutto-Erwerbseinkommens). Bei tiefen Einkommen liegt es sehr nahe bei demjenigen der Existenzsicherung (vgl. HÜRZELER/STAUFFER, a.a.O., mit Hinweisen auf die Materialien).» (E.6.2)

«Während die erste Säule den Existenzbedarf angemessen zu decken hat (Art. 112 Abs. 2 lit. b BV), zielen die vom Beschwerdeführer angerufenen vorsorgerechtlichen Bestimmungen (vgl. E. 4 hiervor) gemäss vorgegebenem Verfassungsziel (Art. 113 BV) darauf ab, den älteren Menschen, den Hinterbliebenen und Invaliden beim Eintreten eines Versicherungsfalles (Alter, Tod oder Invalidität) zusammen mit den Leistungen der AHV/IV die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise zu erlauben (Art. 1 Abs. 1 BVG) und im Hinblick darauf, den Vorsorgeschutz zu erhalten (Art. 2-4 FZG; zum Ganzen: BGE 148 V 114 E. 7.1). Letzteres schliesst den Zugriff auf Mittel der Berufsvorsorge vor Eintritt des Versicherungsfalles aus resp. lässt diesen nur in gesetzlich eng umschriebenen Fällen zu, namentlich in Form der Barauszahlung gemäss Art. 5 Abs. 1 FZG (lit. a: endgültige Verlassen der Schweiz; lit. b: Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit; lit. c: Austrittsleistung geringer als der Jahresbeitrag) sowie des Vorbezugs für Wohneigentum nach Art. 30c BVG. Dies zeigt sich auch vollstreckungsrechtlich, indem Ansprüche auf Vorsorge- und Freizügigkeitsleistungen gegen eine Einrichtung der beruflichen Vorsorge vor Eintritt der Fälligkeit unpfändbar sind (Art. 92 Abs. 1 Ziff. 10 SchKG; vgl. auch Art. 39 BVG sowie Art. 17 FZV). Fällig im Sinne von Art. 92 Abs. 1 Ziff. 10 SchKG wird die Freizügigkeitsleistung, wenn der Betriebene ihre Auszahlung verlangt (BGE 148 III 232 E. 6.3 mit Hinweisen; zum abweichenden Fälligkeitsbegriff gemäss Art. 75 ff. OR im Bereich der Ergänzungsleistungen: vgl. SVR 2007 EL Nr. 3 S. 5, P 56/05 E. 3.2 mit Hinweisen). Soweit sie nicht unpfändbar sind, besteht beschränkte Pfändbarkeit im Rahmen von Art. 93 SchKG, mithin soweit sie für den Schuldner und seine Familie nicht unerlässlich sind (vgl. Abs. 1), längstens für die Dauer eines Jahres (Abs. 2). Ziel dieser Bestimmungen ist der Erhalt des Vorsorgeschutzes, d.h. dass dem Berechtigten sein Freizügigkeitskapital zur Deckung der Lebenshaltungskosten nach Eintritt des Vorsorgefalles Alters effektiv zur Verfügung steht (MICHAEL E. MEIER, Der Vorbezug von Freizügigkeitsguthaben in der Sozialhilfe, in: Jusletter 15. Mai 2023, Rz. 4).» (E.6.3).

«Nach Art. 16 Abs. 1 FZV dürfen Altersleistungen von Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten frühestens fünf Jahre vor Erreichen des Rentenalters nach Artikel 13 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen und Invalidenvorsorge (BVG) ausbezahlt werden; beim Bezug einer IV-Rente dürfen die Altersleistungen bereits früher ausbezahlt werden (Art. 16 Abs. 2 FZV). Das Rentenalter nach Art. 13 Abs. 1 BVG liegt bei Männern bei Zurücklegung des 65. Altersjahres, d.h. ein Vorbezug nach Art. 16 Abs. 1 FZV ist ab Vollendung des 60. Altersjahres möglich. Mit dem Bezug des Freizügigkeitsguthabens kann die berechtigte Person grundsätzlich frei über die betreffenden Vermögenswerte verfügen (BGE 148 III 232 E. 6.2.2). Dementsprechend hat das Bundesgericht in BGE 148 V 114 entschieden, dass – anderslautende kantonalrechtliche Bestimmungen vorbehalten (vgl. etwa § 20 Abs. 2bis der Sozialhilfe- und Präventionsverordnung [SPV] des Kantons Aargau, in Kraft seit 1. Januar 2023) – gestützt auf Art. 16 Abs. 1 FZV bezogenen Freizügigkeitsguthaben zur Rückerstattung wirtschaftlicher Sozialhilfe verwendet werden können (E. 7.3.1). Es wies aber darauf hin, dass dem Vorsorgeschutz mit einer beschränkten Pfändbarkeit im Rahmen von Art. 93 SchKG im Zuge der Vollstreckung Rechnung getragen werde (E. 7.4).» (E.6.4).

Hier ist die Schlussfolgerung des Bundesgerichts im Urteil 8C_333/2023 vom 1. Februar 2024 im Originalwortlaut:

«Zusammenfassend hätte die Sozialhilfebehörde, wenn sie denn vom Bestand des Freizügigkeitsguthabens des Beschwerdeführers Kenntnis gehabt hätte, diesen nicht zum Bezug im Alter von 60 Jahren verhalten können. Aufgrund des anzunehmenden vollständigen Verbrauchs des Freizügigkeitsguthabens und der damit einhergehenden drohenden Gefahr einer erneuten Sozialhilfeabhängigkeit vor Erreichen des 63. Altersjahres wäre ein Vorbezug ab April 2019 im vorliegenden Fall nicht zumutbar gewesen. Mithin wiegt der Vorsorgeschutz in der vorliegenden Konstellation schwerer als das Subsidiaritätsprinzip. Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer die von 1. April 2019 bis 31. März 2022 erhaltenen Sozialhilfeleistungen rechtmässig bezogen hat, weshalb kein Raum für eine Rückforderung gestützt auf Art. 13a SHG bleibt. Indem das kantonale Gericht zum Schluss gelangt ist, der Beschwerdeführer hätte sein Freizügigkeitskapital bereits mit 60 Jahren beziehen müssen und es die Rückerstattungspflicht im Umfang von Fr. 77’671.80 bestätigte, hat es § 7 Abs. 1 und 2 SHG sowie § 13a Abs. 1 SHG willkürlich angewendet und bei der Abwägung zwischen Subsidiartitätsprizip (E. 7.3.2) und dem bundesrechtlichem Vorsorgeschutz (E. 6.2 f.) den Verhältnismässigkeitsgrundsatz (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV) willkürlich übergangen. Die Rügen des Beschwerdeführers sind begründet.» (E.7.4).

Kommentare (0)

Wir verwenden Cookies, um unsere Website und Ihr Navigationserlebnis zu verbessern. Wenn Sie Ihren Besuch auf der Website fortsetzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zum Datenschutz finden Sie hier.

Akzeptieren