Herausgabe bzw. Sperrung von archivierten Jugendpersonal- und Patientenakten

Die Übergabe der Jugendpersonalakte der Jugendanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und der bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel geführten Patientenakten an das Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt greift in die Privatsphäre und das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Beschwerdeführers ein, ist jedoch vorliegend konventions- und verfassungsmässig. Das Bundesgericht weist im Urteil 2C_1024/2021 vom 2. November 2022 die Beschwerde der betroffenen Person ab, soweit es darauf eintritt. In diesem Urteil macht das Bundesgericht sehr interessante Ausführungen zum Thema Staatsarchiv und Abwägungen von einzelnen Rechten.

Sachverhalt

Im Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt befinden sich eine Personalakte der Jugendanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (JUGA) sowie eine Patientenakte mit Behandlungsunterlagen, psychiatrischen Gutachten und Verlaufsberichten der Psychiatrischen Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche (UPK) über den Beschwerdeführer.

Der Beschwerdeführer ersuchte das Staatsarchiv, ihm diese Akten sowie allfällige Kopien hiervon herauszugeben bzw. die entsprechenden Akten zu sperren.

Das Staatsarchiv und nach ihm das Präsidialdepartement des Kantons Basel-Stadt lehnten dies ab.

Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigte den Entscheid des Präsidialdepartements, wogegen beim Bundesgericht eine Beschwerde eingereicht worden ist.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 2C_1024/2021 vom 2. November 2022

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Die Weitergabe der gesundheitsbezogenen – und damit höchstpersönlichen bzw. besonders schützenswerten Daten der JUGA und der UPK an das Staatsarchiv – greift in den Schutzbereich des Privatlebens und der informationellen Selbstbestimmung (Artikel 13 BV und 8 EMRK) ein.

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass dieser Grundrechtseingriff zulässig ist. Es besteht im Archivgesetz des Kantons Basel-Stadt eine hinreichend klare und vorhersehbare gesetzliche Grundlage. Die wesentliche Rolle der Archivierung für das Verständnis der Entwicklung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen einer Nation entspricht einem breiten Konsens in den Vertragsstaaten der EMRK. Die im Archivgesetz vorgesehenen Schutzfristen und die Prüfung der Schutzwürdigkeit im Einzelfall erlauben den Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen bei persönlichkeitsbezogenen Daten und Persönlichkeitsprofilen. Der Eingriff in die Privatsphäre und das informationelle Selbstbestimmungsrecht dient einem zulässigen öffentlichen Interesse. Das Archivgesetz trägt den schutzwürdigen Interessen an der informationellen Selbstbestimmung des Beschwerdeführers und den öffentlichen Interessen an der Aufbewahrung seiner personenbezogenen Daten angemessen Rechnung und schützt ihn hinreichend vor Willkür, womit auch die Verhältnismässigkeit des Grundrechtseingriffs gewahrt ist.

Hier sind einige der wichtigsten Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 2C_1024/2021 vom 2. November 2022:

«Die wesentliche Rolle der Archivierung für das Verständnis der Entwicklung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen einer Nation entspricht einem breiten Konsens in den Vertragsstaaten der EMRK (vgl. hierzu BBl 1997 II 941 ff. Ziff. 113.3 [S. 947 ff.]; vgl. auch die Ausnahmeregelung für die Archivierung in Art. 17 Abs. 3 lit. d und Art. 89 der Verordnung 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG [Datenschutzgrundverordnung; ABl. L 119 vom 4. Mai 2016 S. 1 ff.] und dort auch die Erwägungen 50, 52 f., 62, 64 u. 73). Die Schutzfristen und die Prüfung der Schutzwürdigkeit im Einzelfall erlauben den Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen bei persönlichkeitsbezogenen Daten und Persönlichkeitsprofilen (vgl. BBl 1997 II 941 Ziff. 223 [S. 957 f.]; Ratschlag und Entwurf zu einem Gesetz über das Archivwesen, a.a.O., Ziff. 3.4.4 [S. 14 f.]; RUDIN, a.a.O., N. 54 ff.). Der Eingriff in die Privatsphäre und das informationelle Selbstbestimmungsrecht dient damit einem zulässigen öffentlichen Interesse im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK bzw. Art. 36 Abs. 2 BV. Entscheidend für dessen Zulässigkeit ist die Interessenabwägung im jeweiligen Einzelfall (vgl. hierzu die nachstehende E. 6; s.a. OLIVER DIGGELMANN, a.a.O., N. 34 zu Art. 13 BV).» (E.5.2.6).

«Die Schutzgarantien von Art. 8 Ziff. 1 EMRK und Art. 13 BV gelten – wie bereits dargelegt (vgl. vorstehende E. 3.3) – nicht absolut. Ein Eingriff in das Recht auf Privatleben bzw. die informationelle Selbstbestimmung ist statthaft, soweit er gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die zulässige Interessenverfolgung notwendig erscheint (Art. 8 Ziff. 2 EMRK). Die Konvention verlangt, dass der Eingriff einem dringenden gesellschaftlichen bzw. sozialen Bedürfnis entspricht („pressing social need“), um das berechtigte Ziel zu erreichen; zudem muss er sich als verhältnismässig erweisen. Die Bedeutung des Rechts, in das eingegriffen wird, und die Schwere des Eingriffs sind dem Eingriffszweck gegenüberzustellen und gegen diesen abzuwägen. Es ist zu prüfen, ob zwischen den Interessen des Einzelnen an der Achtung seiner Konventionsgarantien und den öffentlichen Interessen an einem Eingriff ein angemessenes Verhältnis besteht (VILLIGER, a.a.O., N. 650 ff.; MEYER-LADEWIG/NETTESHEIM, a.a.O., N. 113 zu Art. 8 EMRK; GONIN/BIGLER, a.a.O., N. 178 ff. zu Art. 8 EMRK).» (E.6.2.1).

«Bei Eingriffen in das Recht auf Schutz persönlicher Daten ist im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung das öffentliche Interesse an deren Erhebung bzw. Archivierung gegenüber jenem auf Schutz der informationellen Selbstbestimmung der betroffenen Person abzuwägen. Besonderen Schutz geniessen dabei medizinische Daten, da es bei ihnen nicht nur um die Wahrung der Privatsphäre, sondern auch um das Vertrauen in den medizinischen Berufsstand und in das Gesundheitswesen geht (vgl. die EGMR-Urteile Mockuté gegen Litauen vom 27. Februar 2018 [Nr. 66490/09] § 93 ff.; L.H. gegen Lettland vom 29. April 2014 [Nr. 52019/07] § 56; Varapnickaité-Mazyliené gegen Litauen vom 17. Januar 2012 [Nr. 20376/05] § 44; L.L. gegen Frankreich vom 10. Oktober 2006 [Nr. 7508/02] § 44 und Z. gegen Finnland vom 25. Februar 1997 [Nr. 22009/93] § 95; HERTIG RANDALL/ MARQUIS, a.a.O., N. 26 zu Art. 13 BV).» (E.6.2.2).

«Auch nach der Archivierung sind – entgegen der Einschätzung des Beschwerdeführers – die im Jugendstrafverfahren bzw. in seinem Patientendossier erhobenen personenbezogenen Gesundheitsdaten nicht frei zugänglich (vgl. Ratschlag und Entwurf zu einem Gesetz über das Archivwesen, a.a.O., S. 26 ff.) : Das Staatsarchiv schützt das Archivgut vor unbefugter Benützung und Vernichtung (§ 6 Abs. 2 Archivgesetz; Ratschlag und Entwurf zu einem Gesetz über das Archivwesen, a.a.O., S. 24). Zwar haben alle Personen das Recht, Archivgut nach Massgabe des Archivgesetzes zu benützen (§ 9 Abs. 1 Archivgesetz), dieses Recht wird jedoch eingeschränkt oder ausgeschlossen, wenn Grund zur Annahme besteht, „dass andernfalls überwiegende schutzwürdige Interessen einer betroffenen Person oder Dritter beeinträchtigt würden“ (§ 9 Abs. 2 lit. a Archivgesetz).» (E.6.3.1).

«Das Archivgesetz trägt damit den schutzwürdigen Interessen an der informationellen Selbstbestimmung des Beschwerdeführers und den öffentlichen Interessen an der Aufbewahrung seiner personenbezogenen Daten, die künftig etwa psychiatrie-geschichtlich (vgl. COUTAZ/JEANMONOD, a.a.O., S. 22) oder analytisch-jugendstrafrechtlich von Bedeutung sein können, angemessen Rechnung und schützt ihn hinreichend vor Willkür.» (E.6.3.6).

«Soweit der Beschwerdeführer schliesslich einwendet, dass bei der Konsultation seiner Dossiers die Unterlagen vorübergehend ohne weitere Kontrolle durch das Staatsarchiv im Lesesaal aufgelegen hätten, kann daraus nicht geschlossen werden, dass das Staatsarchiv die privaten Datenschutzinteressen generell nicht ernstnehmen und den Schutz des Archivguts – entgegen seiner gesetzlichen Pflichten (vgl. § 6 Abs. 2 Archivgesetz) – nicht sicherstellen bzw. sein Personal in diesem Zusammenhang nicht (weiter) schulen und überwachen wird.» (E.7.3).

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