Abholungsort als Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. b LugÜ

Das Bundesgericht klärte im Urteil 4A_449/2021 vom 27. Januar 2022 die Frage, welcher Ort als Lieferort gemäss Art. 5 Ziff. 1 lit. b LugÜ gilt, wenn vertragsgemäss die Ware zur Lieferung bereitzustellen ist. Das Bundesgericht stimmt der Vorinstanz, dem Handelsgericht Zürich zu, dass der Abholungsort der Kaufsache als massgeblicher Erfüllungsort zu gelten hat (E.4.4).

Sachverhalt

Die B.________ AG (Klägerin, Beschwerdegegnerin) ist eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts mit Sitz in U.________. Sie bezweckt den Handel mit Fahrrädern, Fahrradzubehör, Fahrradaccessoires und Sportbekleidung sowie die Durchführung von Schulungen im Fahrradbereich.  Das Unternehmen A.________ (Beklagte, Beschwerdeführerin) ist eine Offene Handelsgesellschaft (Vennootschap Onder Firma) niederländischen Rechts mit Sitz in V.________ (Niederlande). Sie bezweckt den Grosshandel mit Fahrrädern und Mopeds sowie Fahrradteilen. Durch die Vermittlung des Agenten C.________ in W.________ (Italien) bestellte das Unternehmen A.________ im September und Oktober 2018 Produkte bei der B.________ AG.  Die Parteien streiten über den Umfang einer in der Folge ausgeführten Lieferung vom 23. April 2019. Die B.________ AG stellt sich auf den Standpunkt, die Bezahlung von JPY 5’489’665.30 und USD 28’222.– sei noch ausstehend. Das Unternehmen A.________ bestreitet dies und macht unter anderem geltend, sie habe die in den angeblich unbezahlt gebliebenen Rechnungen aufgeführte Ware nie erhalten.

Am 11. Januar 2021 reichte die B.________ AG beim Handelsgericht des Kantons Zürich eine Klage ein. Sie verlangte, das Unternehmen A.________ sei zu verurteilen, ihr JPY 5’489’665.30 und USD 28’222.–, je nebst Zins, zu bezahlen. Das Unternehmen A.________ erhob in der Klageantwort die Einrede der fehlenden internationalen und örtlichen Zuständigkeit.

Mit Beschluss vom 3. August 2021 wies das Handelsgericht die Unzuständigkeitseinrede ab.

Das Unternehmen A.________ verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen vom 13. September 2021, der Beschluss des Handelsgerichts sei aufzuheben und es sei dessen Unzuständigkeit festzustellen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Ergänzung des Beweisverfahrens und zum Neuentscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Die Vorinstanz verzichtete auf Vernehmlassung. Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde und das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung abzuweisen.

Eine zunächst auf den 12. November 2021 anberaumte Vergleichsverhandlung am Handelsgericht wurde von Oberrichter Daniel Schwander mit E-Mail vom 13. Oktober 2021 verschoben, um das bundesgerichtliche Urteil zur Zuständigkeitsfrage abzuwarten.

Ausführungen des Bundesgerichts Urteil 4A_449/2021 vom 27. Januar 2022 

Vor Bundesgericht ist unbestritten, dass das LugÜ im vorliegenden Fall anwendbar ist, dass Ansprüche aus einem Vertrag Gegenstand des Verfahrens vor dem Handelsgericht bilden und dass es um den Kauf beweglicher Sachen geht, mithin Art. 5 Nr. 1 Bst. b erster Spiegelstrich LugÜ zur Anwendung gelangt (E.3.2).

Das Bundesgericht äusserte sich weiter wie folgt: «Mit Art. 5 Nr. 1 Bst. b LugÜ wurde für Klagen aus Kaufverträgen über bewegliche Sachen (und für solche aus Dienstleistungsverträgen) ein Erfüllungsortsgerichtsstand geschaffen, der übereinkommensautonom, also grundsätzlich ohne Anknüpfung an die lex causae, zu bestimmen ist (BGE 140 III 418 E. 3.2 S. 419, 115 E. 4 S. 120 mit weiteren Hinweisen).  Dieser Gerichtsstand soll nicht nur Sach- und Beweisnähe herstellen, sondern bezweckt auch die Stärkung der Vorhersehbarkeit. Art. 5 Nr. 1 Bst. b LugÜ ist daher grundsätzlich so auszulegen, dass der Ansprecher die ihm für die Geltendmachung seiner Forderung zur Verfügung stehenden Gerichtsstände ohne Schwierigkeiten bestimmen kann und umgekehrt die Gegenpartei in der Lage ist, in vernünftiger Weise abzuschätzen, vor welchen Gerichtsbarkeiten sie allenfalls belangt wird (siehe BGE 142 III 466 E. 6.1.1 S. 475 f.; 140 III 418 E. 4.1 S. 420; grundlegend Urteil des EuGH vom 3. Mai 2007 C-386/05 Color Drack GmbH gegen Lexx International Vertriebs GmbH, Slg. 2007 I-03699 Randnrn. 19-24).» (E.4.1).

Es fährt fort: «Der Lieferort nach Art. 5 Nr. 1 Bst. b LugÜ ist dabei in erster Linie „nach dem Vertrag“ zu bestimmen, mithin ist die Vereinbarung eines Erfüllungsorts durch die Parteien massgebend. Ein solcher vertraglicher Erfüllungsort muss nicht ausdrücklich bezeichnet sein, sondern kann sich auch durch Vertragsauslegung ergeben. Kann der Lieferort nicht anhand der Vertragsbestimmungen ermittelt werden (oder nur unter Rückgriff auf das auf den Vertrag anwendbare materielle Recht), ist hilfsweise der Ort heranzuziehen, an welchem die Ware der Käuferin tatsächlich körperlich übergeben wurde, vorausgesetzt, die Lieferung an diesem Ort widerspricht nicht dem Parteiwillen, wie er sich aus den Vertragsbestimmungen ergibt. Kann der Lieferort weder anhand der Bestimmungen des Vertrags selbst noch aufgrund von dessen tatsächlicher Erfüllung bestimmt werden, ist er „auf andere Weise“ zu ermitteln, die den mit dem LugÜ verfolgten Zielen der Vorhersehbarkeit und der räumlichen Nähe Rechnung trägt (BGE 140 III 418 E. 4.1 S. 420, E. 4.4.2 und E. 6.2.1; zur EUGVVO: Urteile des EuGH vom 9. Juni 2011 C-87/10 Electrosteel Europe SA gegen Edil Centro SpA, Slg. 2011 I-04987 Randnrn. 16-26; vom 25. Februar 2010 C-381/08 Car Trim GmbH gegen KeySafety Systems Srl., Slg. 2010 I-01255 Randnrn. 44-62; für Dienstleistungsverträge auch BGE 140 III 115 E. 6). 

Der EuGH – dessen Rechtsprechung das Bundesgericht allerdings nicht bindet (vorstehend Erwägung 3.1) – hat in Bezug auf den (von ihm so genannten) „Versendungskauf“ präzisiert, dass der Ort der körperlichen Übergabe jener Ort sei, an dem die Käuferin am endgültigen Bestimmungsort des Verkaufsvorgangs die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Waren erlangt hat oder hätte erlangen müssen (Urteile Electrosteel Europe SA, Randnr. 26; Car Trim GmbH, Randnrn. 60-62; siehe allgemein zu den Schwierigkeiten etwa ANDREA BONOMI, in: Commentaire romand, Loi sur le droit international privé – Convention de Lugano, 2011, N. 62-81 zu Art. 5 LugÜ; PAUL OBERHAMMER, in: Lugano-Übereinkommen, Dasser/Oberhammer [Hrsg.], 3. Aufl. 2021, N. 49-59 zu Art. 5 LugÜ, der in N. 54 im Zusammenhang mit der Bestimmung des Erfüllungsorts ein „synkretistisches Tappen im Dunkeln“ ausmacht). Das Bundesgericht hat sich dieser Auffassung angeschlossen (BGE 140 III 418 E. 6.2.1).» (E.4.2).

Das Bundesgericht fährt fort mit diesen zentralen Ausführungen zur «Holschuld-Konzeption»: «Das Schrifttum zu Art. 5 Nr. 1 Bst. b LugÜ (wie im Übrigen auch jenes zu Art. 7 Nr. 1 Bst. b EuGVVO) bezeichnet derartige Konstellationen als „Holschuld“ („dette quérable“), und auch nach (hier allerdings nicht massgebenden, da materiellrechtlichen) schweizerischen Begrifflichkeiten haben die Parteien im vorliegenden Fall eine „Holschuld“ vereinbart und gelebt (vgl. GAUCH/SCHLUEP/EMMENEGGER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II, 11. Aufl. 2020, S. 17 f. Rz. 2118).  

Es besteht weitgehend Einigkeit, was den Erfüllungsort in solchen Fällen anbelangt: Beschränkt sich die Pflicht und die Aufgabe der Verkäuferin darauf, die Ware zu Handen der Käuferin zur Abholung bereitzustellen (liegt in diesem Sinne also eine „Holschuld“ der Käuferin vor), gilt als konventionsautonom bestimmter Lieferort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Bst. b LugÜ jener Ort, an dem die Ware von der Verkäuferin zur Verfügung gestellt wird, unabhängig davon, ob die Ware dort von der Käuferin selbst oder von einem von dieser autorisierten Dritten abgeholt wird (ALEXANDER R. MARKUS, Internationales Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2020, S. 249-251 Rz. 914-918; derselbe, Vertragsgerichtsstände nach Art. 5 Ziff. 1 revLugÜ/EuGVVO – ein EuGH zwischen Klarheit und grosser Komplexität, AJP 2010, S. 979 und 981; ferner WOLFGANG HAU, Die Kaufpreisklage des Verkäufers im reformierten europäischen Vertragsgerichtsstand – ein Heimspiel?, JZ 2008, S. 975 und 978; KROPHOLLER/VON HEIN, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, N. 45 [am Ende] zu Art. 5 EuGVVO; STEFAN LEIBLE, in: EuZPR, EuIPR, Kommentar, Bd. 1, Thomas Rauscher [Hrsg.], 5. Aufl. 2020, N. 76 zu Art. 7 EuGVVO; PETER MANKOWSKI, in: ECPIL, Bd. I, Brussels Ibis Regulation, Commentary, Magnus/Mankowski [Hrsg.], 2016, N. 143 f. und 147 zu Art. 5 EUGVVO; INGO SAENGER, in: Internationales Vertragsrecht, Franco Ferrari und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2018, N. 23 zu Art. 31 CISG [zu Art. 7 Nr. 1 Bst. b EuGVVO]; CORINNE WIDMER LÜCHINGER, in: Kommentar zum UN-Kaufrecht [CISG], Schlechtriem/ Schwenzer/Schroeter [Hrsg.], 7. Aufl. 2019, N. 87 zu Art. 31 CISG [zu Art. 7 Nr. 1 Bst. b EuGVVO]; kritisch dagegen PASCAL GROLIMUND, Fallstricke und Stilblüten bei der Zuständigkeit in Zivilsachen, AJP 2009, S. 967 und dort in Fn. 47). 

Dies fliesst aus den allgemeinen, in der europäischen und schweizerischen Praxis entwickelten Grundsätzen zur Bestimmung des Erfüllungsorts beim Kauf beweglicher Sachen (Erwägungen 4.1 f.) und ist auch im Konkreten sachgerecht: Denn dort, wo die Verkäuferin die Ware bereithält, soll die Käuferin nach dem Willen der Parteien in die Lage versetzt werden, die Ware in ihren körperlichen Gewahrsam zu nehmen, und gelangt die Sache – aus hier massgebender vertraglicher Perspektive – an ihren Bestimmungsort. Es widerspräche dem grundlegenden Prinzip der Vorhersehbarkeit, auf jenen Ort abzustellen, an welchen die Käuferin (oder ein von dieser beauftragtes Transportunternehmen) die Ware selbstbestimmt verfrachtet, wie dies die Beschwerdeführerin vorschlägt. Ein derartig in das Belieben der Käuferin gestellter Gerichtsstand liesse sich mit der auf Rechtsklarheit abzielenden Zuständigkeitsordnung in Art. 5 Nr. 1 Bst. b LugÜ nicht in Einklang bringen. Die Beschwerdeführerin verschleiert das Problem, wenn sie wiederholt vorträgt, die „eigentliche Abnahme“ der Ware sei erst an ihrem Sitz in den Niederlanden erfolgt. Dieser Vorgang steht nicht nur ausserhalb der vertraglichen und den tatsächlichen Erfüllungshandlungen der Parteien, er war darüber hinaus für die Beschwerdegegnerin nicht antizipierbar. Auch dem mit dem LugÜ verfolgten Anliegen der räumlichen Nähe zwischen dem Vertrag und dem zur Entscheidung berufenen Gericht würde nicht Rechnung getragen, wenn mit der Beschwerdeführerin auf jenen Ort abgestellt würde, an dem die Ware ihr von der Käuferin bestimmtes, aus Verkäuferperspektive letztlich aber zufälliges „endgültiges“ Ziel erreicht, nicht aber auf den Ort der Abholung, an dem die Käuferin Verfügungsgewalt über die Ware erlangt und sich die Pflichten der Verkäuferin erschöpfen. Inwiefern der angebliche „Umstand […], dass die Beschwerdegegnerin ihre Logistik nicht einwandfrei im Griff hatte“, eine Rolle spielen soll, ergibt sich aus den Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht. Dass im Übrigen die Beschwerdegegnerin die „für den internationalen Warentransport notwendigen Dokumente“ erstellt hat, ändert entgegen der Beschwerdeführerin am Gesagten nichts.» (E.4.3.2).

Schliesslich bestätigt das Bundesgericht im Urteil 4A_449/2021 vom 27. Januar 2022 das Urteil der Vorinstanz mit den folgenden Worten: «Somit ist die Vorinstanz von einer zutreffenden Rechtsauffassung ausgegangen, wenn sie schloss, der massgebende Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Bst. b LugÜ befinde sich am Abholungsort der Kaufsache in U.________. Dass bei diesem Ergebnis das Handelsgericht des Kantons Zürich für die Klage auf Bezahlung des ausstehenden Kaufpreises örtlich und sachlich zuständig ist, bestreitet die Beschwerdeführerin nicht. Ihre Unzuständigkeitseinrede war abzuweisen.» (E.4.4).

 

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