Keine Verwertbarkeit von Kameraaufnahmen bei leichteren Strafdelikten

Im Urteil 6B_1288/2019 vom 21. Dezember 2020 behandelte das Bundesgericht die beweisrechtliche Verwertbarkeit von Kameraaufnahmen aus dem öffentlichen Raum. Streitgegenstand vor dem Bundesgericht bildete die Verwertbarkeit einer Videoaufnahme, welche von einer an der Synagoge der Israelitischen Gemeinde Basel installierten Videoüberwachungsanlage erstellt wurde und die Strassenkreuzung im öffentlichen Raum erfasst, auf welcher es zur Beinahekollision zwischen dem Beschwerdeführer und der Fahrradlenkerin bzw. Geschädigten kam. Da die Überwachungsanlage nicht auf eine genügende rechtliche Grundlage abgestützt war und das zur Diskussion stehenden Delikte keine schweren Straftaten im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO darstellen verneinte das Bundesgericht die Verwertbarkeit der Videoaufnahmen.

Sachverhalt

Person A. wird vorgeworfen, am 21. August 2016 als Lenker eines Personenwagens auf der Höhe der Verzweigung C.-Strasse/D.-Strasse in Basel die Markierung „Kein Vortritt“ missachtet und gleichzeitig die vortrittsberechtigte Fahrradlenkerin B. übersehen zu haben. Um eine Kollision zu vermeiden, sei die Fahrradlenkerin gezwungen gewesen, ein abruptes Ausweichmanöver einzuleiten. Dadurch habe sie sich Verspannungen im Bereich des Rückens und des linken Fusses zugezogen.

Die Staatsanwaltschaft erliess am 10. März 2017 einen Strafbefehl. Nach erfolgter Einsprache und Überweisung der Angelegenheit an das Gericht erklärte das Strafgericht Basel-Stadt A. am 6. März 2018 der fahrlässigen Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt aufgeschobenen Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 150.– und zu einer Busse von Fr. 900.–.

Verfahrensgeschichte

Gegen diesen Entscheid erhob A. Berufung, worauf ihn das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 18. September 2019 der groben Verkehrsregelverletzung schuldig erklärte und zu einer bedingt aufgeschobenen Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu Fr. 160.– und zu einer Busse von Fr. 800.– verurteilte.

Person A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Appellationsgerichts sei aufzuheben und er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei die Sache insbesondere zur Neuregelung der Kostenverteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Appellationsgericht beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen.

Streitgegenstand vor Bundesgericht im Urteil 6B_1288/2019 vom 21. Dezember 2020

Streitgegenstand vor dem Bundesgericht bildet die Verwertbarkeit einer Videoaufnahme, welche von einer an der Synagoge der Israelitischen Gemeinde Basel installierten Videoüberwachungsanlage erstellt wurde und die Strassenkreuzung im öffentlichen Raum erfasst, auf welcher es zur Beinahekollision zwischen dem Beschwerdeführer und der Fahrradlenkerin kam. (E.1)

Der Beschwerdeführer rügt in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 141 StPO. Er macht geltend, die Israelitische Gemeinde Basel falle als öffentlich-rechtliche Körperschaft unter das Informations- und Datenschutzgesetz des Kantons Basel-Stadt, habe aber im Zeitpunkt des Strassenverkehrsdelikts entgegen dessen §§ 17 und 18 des Gesetzes über die Information und den Datenschutz (IDG/BS; SG 153.260) sowie der §§ 5-9 der Verordnung über die Information und den Datenschutz (IDV/BS; SG 153.270) nicht über das notwendige Reglement für das Videoüberwachungssystem verfügt. Daher unterliege der Kamerabeweis dem Verwertungsverbot im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO. Aus datenschutzrechtlichen Überlegungen dürfe die Videoüberwachungsanlage alsdann nicht zu anderen als zu sicherheitstechnischen Zwecken eingesetzt werden, vor allem, wenn kein Reglement bestehe und es sich um die Überwachung von Personen und Vorgängen im öffentlichen Raum handle. Soweit es sich um eine rein private Beweismittelbeschaffung gehandelt habe, müssten die einschlägigen Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Datenschutz vom 19. Juni 1992 (DSG; SR 235.1) beachtet werden. Unter Hinweis auf das Urteil 6B_1188/2018 vom 26. September 2019 (BGE 146 IV 226) macht der Beschwerdeführer geltend, dass die Aufnahmen im öffentlichen Raum eine Persönlichkeitsverletzung nach Art. 12 Abs. 2 lit. a DSG darstelle. Eine schwere Straftat nach Art. 141 Abs. 2 StPO liege nicht vor. Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, die Unverwertbarkeit der Videoaufnahme beschlage gemäss Art. 141 Abs. 4 StPO auch alle Folgebeweise wie seine Aussage, dass er die „Haifischzähne“ überfahren habe. Davon betroffen sei nur der ihn belastende Teil des Videos, nicht aber der für ihn primär günstige und entlastende Teil des Videos, da vorliegend nicht von einem einheitlichen und unteilbaren Geschehensablauf ausgegangen werden müsse. (E.1.1).

Die Vorinstanz erachtet gemäss Bundesgericht die fragliche Videoaufnahme als zulässig und umfassend verwertbar, d.h. sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Beschwerdeführers. Sie erwägt dazu im Wesentlichen, dass es sich bei der Israelitischen Gemeinde Basel um eine öffentlich-rechtliche Körperschaft handle. Gleichwohl sei die Aufnahme einem privat erlangten Beweismittel gleichzustellen. Installation und Betrieb der Videoüberwachungsanlage der Synagoge seien in Absprache mit der Polizei aus Sicherheitsgründen vorgenommen worden. Zwar habe im Tatzeitpunkt kein Reglement für die Überwachungsanlage bestanden, wie dies § 17 und § 18 IDG/BS vorsehe. Dieser Mangel sei jedoch „marginaler Natur“ und das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers nur sehr geringfügig tangiert. Selbst wenn die Aufzeichnung unter Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift zustande gekommen sei, wirke sich dies im Rahmen der Interessenabwägung nur in geringem Ausmass aus. Für die Verwertbarkeit spreche, dass die Aufzeichnung im öffentlichen Raum und an einer Stelle erfolgt sei, an welcher auch seitens der Polizei Aufzeichnungen zulässig wären. Die Polizei habe denn offenbar auch zu verstehen gegeben, dass sie die betreffende Videoüberwachung durch die Israelitische Gemeinde Basel für angebracht halte. Auch der Beschwerdeführer anerkenne, dass die installierte Kamera zur Gewährleistung der Sicherheit der Synagoge eine vollkommen legitime Zweckverfolgung darstelle. Die Verwertung der Videoaufzeichnung sei vorliegend unerlässlich und zulässig, da sich ansonsten lediglich die Aussagen der beiden Involvierten gegenüberstehen würden, die beide nicht ohne weiteres überzeugten. Alsdann sei ein Verhalten zu prüfen, das eine erhebliche Gefährdung von Leib und Leben mit sich bringen könne und eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG darstelle.  (E.1.2).

Ausführungen des Bundesgerichts zur Videoüberwachung im Urteil 6B_1288/2019 vom 21. Dezember 2020 

Das Bundesgericht führte aus, dass die Videoüberwachung insbesondere das Recht auf Privatsphäre (Art. 13 BV) betrifft. Art. 13 BV schützt die verschiedenste Aspekte umfassende Privatsphäre mit ihren spezifischen Bedrohungsformen (BGE 133 I 77 E. 3.2). Nach dessen Abs. 2 gehört dazu im Besonderen der Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten. Dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung garantiert, dass grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, wie sensibel die fraglichen Informationen tatsächlich sind, jede Person gegenüber fremder, staatlicher oder privater Bearbeitung von sie betreffenden Informationen bestimmen können muss, ob und zu welchem Zweck diese Informationen über sie bearbeitet werden (BGE 145 IV 42 E. 4.2; 144 I 281 E. 6.2; 144 II 91 E. 4.4; zur Erhebung und Aufbewahrung von Fotografien vgl. BGE 120 Ia 147 E. 2b und BGE 107 Ia 138 E. 5a). Entgegen dem zu eng geratenen Wortlaut dieser Bestimmung schützt Art. 13 Abs. 2 BV damit nicht nur vor dem Missbrauch persönlicher Daten, sondern erfasst grundsätzlich die ganze Breite staatlicher, datenbezogener Tätigkeiten wie das Erheben, Sammeln, Aufbewahren, Speichern, Bearbeiten sowie Weiter- und Bekanntgeben an Dritte. Entsprechend hat das Bundesgericht mehrfach festgehalten, dass die Erhebung, Aufbewahrung und Bearbeitung erkennungsdienstlicher Daten, worunter auch Videoaufnahmen fallen, im öffentlich-rechtlichen Verhältnis in das Recht auf Privatsphäre bzw. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen (BGE 145 IV 42 E. 4.2 mit Hinweisen). Der Schutz der Privatsphäre erfasst dabei auch Lebenssachverhalte mit persönlichem Gehalt, die sich im öffentlichen Raum ereignen (BGE 146 I 11 E. 3.1.1 mit Hinweisen). Der Einzelne soll sich nicht dauernd beobachtet fühlen, sondern – in gewissen Grenzen – selber bestimmen dürfen, wer welches Wissen über ihn haben darf bzw. welche personenbezogenen Begebenheiten und Ereignisse des konkreten Lebens einer weiteren Öffentlichkeit verborgen bleiben sollen (BGE 138 II 346 E. 8.2). Die informationelle Selbstbestimmung kann gemäss dem Bundesgericht, wie andere Grundrechte, gestützt auf und nach den Kriterien von Art. 36 BV eingeschränkt werden. Einschränkungen bedürfen demnach einer gesetzlichen Grundlage, müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein und müssen sich schliesslich als verhältnismässig erweisen. Um den Garantien von Art. 13 BV zu genügen, verlangt das Bundesgericht, dass die systematische Datenerfassung und -aufbewahrung von angemessenen und wirkungsvollen rechtlichen Schutzvorkehrungen begleitet werden, um Missbräuchen und Willkür vorzubeugen (BGE 144 I 126 E. 8.3.4 mit Hinweisen). Es ist jedenfalls nicht angebracht mit dem Schlagwort der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unbeschränkte Überwachungen zu begründen, die in vielfältigsten Ausgestaltungen unterschiedlichen Zwecken dienen können (BGE 146 I 11 E. 3.3.2; 136 I 87 E. 8.3). (E.2.3).

Das Bundesgericht ging in der Folge auf die datenschutzrechtliche Regelung am betreffenden Ort ein.  Nach den Feststellungen der Vorinstanz bestand gemäss dem Bundesgericht im Tatzeitpunkt kein Reglement für die Überwachungsanlage. Die Videoaufnahme erfolgte in Missachtung von § 17 f. IDG/BS sowie § 5 ff. IDV/BS und ist damit rechtswidrig. Es braucht (und kann) folglich nicht weiter geprüft werden, ob sich die Videoüberwachung örtlich und zeitlich auf das zur Erreichung des konkreten Zwecks Erforderliche beschränkt und ob ihr Einsatz durch geeignete Massnahmen erkennbar war (vgl. § 17 Abs. 2 und 3 IDG/BS). Dass Installation und Betrieb des Videoüberwachungssystems „in Absprache“ mit der Polizei aus Sicherheitsgründen vorgenommen wurden, ist vorliegend ohne Bedeutung, zumal die Polizei – soweit ersichtlich – weder für den Erlass des Reglements noch für die Vorabkontrolle der Anlage zuständig gewesen wäre (vgl. § 18 Abs. 2 IDG/BS und § 8 IDV/BS). Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit auch unerheblich, wie schwer der Eingriff wiegt. Es genügt hier, dass die Videoaufnahme unter Missachtung der Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns erfolgt ist. (E.2.5).

Das Bundesgericht kam anschliessend zur Schlussfolgerung: «Dem Beschwerdeführer wird kein schwerwiegendes Delikt zum Vorwurf gemacht. Er soll eine Vortrittsmarkierung missachtet und aus Mangel an Vorsicht und Aufmerksamkeit eine Fahrradlenkerin übersehen haben. Zu einer Kollision kam es jedoch nicht. Die Vorinstanz verneinte eine Verletzungsfolge im Sinne von Art. 123 StGB, nachdem die im Arztzeugnis der Notfallstation erhobenen Befunde nicht dem Verhalten des Beschwerdeführers zugeordnet werden konnten (angefochtener Entscheid S. 13 f.) und erklärte ihn – in Abweichung zur ersten Instanz – der groben Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) schuldig. Nach der Rechtsprechung stellen einfache und grobe Verletzungen der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 1 und 2 SVG keine schweren Straftaten im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO dar (BGE 146 IV 224 E. 4; 137 I 218 E. 2.3.5.2; Urteile 6B_1282/2019 vom 13. November 2020 E. 7.2, zur Publikation vorgesehen; 6B_1404/2019 vom 17. August 2020 E. 1.4; 6B_553/2015 vom 18. Januar 2016 E. 2.2, nicht publ. in BGE 142 IV 23). Die Vorinstanz ging damit zu Unrecht von der Verwertbarkeit der Videoaufnahme aus.» (E.2.6).

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