Haftgrund der Wiederholungsgefahr wird bei Vermögensdelikten restriktiv gehandhabt

Im Urteil 1B_637/2020 vom 29. Dezember 2020 hatte sich das Bundesgericht mit einem Fall aus dem Kanton Zürich zu befassen. Das Obergericht des Kantons Zürich bejahte das Vorliegen des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr. Das Bundesgericht entschied anders und verneinte das Vorliegen dieses Haftgrundes, der auch als «Präventivhaft» bezeichnet wird. Das Bundesgericht erklärte dabei u.a. das bei Vermögensdelikten nur ausnahmsweise eine für diesen Haftgrund notwendige Sicherheitsgefährdung vorliegen könne. Die Frage zum Vortaterfordernis lies das Bundesgericht in diesem Fall offen.

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft See/Oberland (nachfolgend Staatsanwaltschaft) führt gegen A. eine Strafuntersuchung wegen Diebstahls etc. Dieser wurde am 27. Juni 2020 verhaftet und in Untersuchungshaft versetzt. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 30. Juli 2020 gut und entliess A. in Freiheit.

Am 27. September 2020 wurde A. erneut verhaftet und mit Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Bezirks Pfäffikon vom 1. Oktober 2020 in Untersuchungshaft versetzt.

Dagegen erhob A. Beschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich. Dieses wies die Beschwerde mit Beschluss vom 9. November 2020 ab. Dem Beschluss liegt eine abweichende Minderheitsmeinung bei.

Mit Eingabe vom 11. Dezember 2020 führt A. gegen den Beschluss vom 9. November 2020 des Obergerichts des Kantons Zürich Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die sofortige Freilassung aus der Untersuchungshaft. Eventualiter sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerdeführer stellt ausserdem ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Stellungnahme.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_637/2020 vom 29. Dezember 2020

Haftgrund der Wiederholungsgefahr («Präventivhaft») im Fokus

Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist Untersuchungshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat.

Der Beschwerdeführer ist im vorliegenden Fall der Auffassung, die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO seien nicht erfüllt. Er verzichtet vor Bundesgericht auf Ausführungen zum Tatverdacht, macht jedoch geltend, die von der genannten Bestimmung verlangten Vortaten lägen nicht vor, und er gefährde auch nicht die Sicherheit anderer (E.2.1).

Zusammenfassung der Praxis durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht machte die folgenden Ausführungen zu einer Praxis zu Haftgrund der Wiederholungsgefahr: «Nach der Rechtsprechung kann die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO dem Verfahrensziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich der Strafprozess durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht. Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer schwerwiegender Delikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als Haftgrund (BGE 146 IV 136 E. 2.2 S. 138; 143 IV 9 E. 2.2 S. 11 f. mit Hinweisen). Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein. Die Aufrechterhaltung von strafprozessualer Haft wegen Wiederholungsgefahr ist verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen. Schliesslich gilt auch bei der Präventivhaft – wie bei den übrigen Haftarten – dass sie nur als „ultima ratio“ angeordnet oder aufrechterhalten werden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen ersetzt werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen verfügt werden (zum Ganzen BGE 143 IV 9 E. 2.2 S. 11 f. mit Hinweisen). Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist entgegen dem deutsch- und italienischsprachigen Gesetzeswortlaut weiter dahingehend auszulegen, dass Verbrechen oder schwere Vergehen drohen müssen. Diese müssen die Sicherheit anderer erheblich gefährden. Die erhebliche Gefährdung der Sicherheit anderer durch drohende Verbrechen oder schwere Vergehen kann sich grundsätzlich auf Rechtsgüter jeder Art beziehen. Im Vordergrund stehen Delikte gegen die körperliche und sexuelle Integrität. Vermögensdelikte sind zwar unter Umständen in hohem Mass sozialschädlich, betreffen aber grundsätzlich nicht unmittelbar die Sicherheit der Geschädigten. Anders kann es sich in der Regel nur bei besonders schweren Vermögensdelikten verhalten. Die Bejahung der erheblichen Sicherheitsgefährdung setzt voraus, dass die Vermögensdelikte die Geschädigten besonders hart bzw. ähnlich treffen wie ein Gewaltdelikt. Die Bejahung der erheblichen Sicherheitsgefährdung kommt bei Vermögensdelikten wie Diebstahl (Art. 139 StGB) oder Betrug (Art. 146 StGB) – auch gewerbsmässigen – deshalb nur in besonders schweren Fällen ausnahmsweise in Betracht (BGE 146 IV 136 E. 2.2 S. 138 f. mit Hinweisen und E. 2.4 S. 141).» (E.2.2).

Nur ausnahmsweise Sicherheitsgefährdung durch Vermögensdelikte

Das Bundesgericht erklärte, dass eine erhebliche Sicherheitsgefährdung bei Vermögensdelikten nur ausnahmsweise in Betracht komme. Es fuhr dann fort: «Ob ein besonders schweres Vermögensdelikt droht, das die Geschädigten besonders hart bzw. ähnlich trifft wie ein Gewaltdelikt, kann nicht abstrakt gesagt werden. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an.  Für die erhebliche Sicherheitsgefährdung spricht es, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die beschuldigte Person bei künftigen Vermögensdelikten Gewalt anwenden könnte. So verhält es sich insbesondere, wenn sie bei früheren Vermögensstraftaten beispielsweise eine Waffe mit sich geführt oder gar eingesetzt hat. Zu berücksichtigen ist sodann die Schwere der von der beschuldigten Person begangenen Vermögensdelikte. Je gravierender diese sind, desto eher spricht dies für die Sicherheitsgefährdung. Ist der Deliktsbetrag – wie zum Beispiel bei Anlagebetrug – sehr hoch, lässt das befürchten, dass die beschuldigte Person auch künftig schwere Vermögensdelikte begehen wird.  Rechnung zu tragen ist weiter der persönlichen, namentlich finanziellen Lage der Geschädigten. Zielen die Taten der beschuldigten Person beispielsweise insbesondere auf schwache und finanziell in bescheidenen Verhältnissen lebende Geschädigte, braucht es für die Bejahung der Sicherheitsgefährdung weniger und genügt ein geringerer Deliktsbetrag. Eine Rolle spielen auch die Verhältnisse der beschuldigten Person. Hat sie z.B. weder Einkommen noch Vermögen und gleichwohl einen grossen Finanzbedarf, etwa weil sie einen luxuriösen Lebensstil pflegt oder an Spielsucht leidet, lässt das darauf schliessen, dass sie schwere Vermögensdelikte begehen könnte. Ob die erhebliche Sicherheitsgefährdung zu bejahen ist, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der im Einzelfall gegebenen Umstände zu entscheiden (BGE 146 IV 136 E. 2.5 S. 141 f.).» (E.2.3).

Zur Rückfallprognose

Zum Bezug zur ungünstigen Rückfallprognose äusserte sich das Bundesgericht wie folgt: «Eine ungünstige Rückfallprognose genügt für die Bejahung der Wiederholungsgefahr nicht, da dem Kriterium der erheblichen Sicherheitsgefährdung eine eigenständige Tragweite zukommt. Für eine ungünstige Prognose spricht insbesondere, wenn die beschuldigte Person bereits zahlreiche Vortaten verübt und sich auch durch Vorstrafen nicht von der Fortsetzung seiner deliktischen Tätigkeit hat abhalten lassen. Ist die Prognose zwar ungünstig, sind von der beschuldigten Person aber keine Vermögensdelikte zu erwarten, welche die Geschädigten besonders hart bzw. ähnlich treffen wie ein Gewaltdelikt, lässt sich keine Präventivhaft rechtfertigen. So verhält es sich namentlich beim Serienbetrüger oder bei der Serienbetrügerin, die nie jemanden schwer geschädigt haben (BGE 146 IV 136 E. 2.6 S. 142).» (E.2.4).

Weiter nahm es wie folgt auf den Fall und die Rückfallprognose Bezug: «Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Methadonabhängigkeit, der Arbeitslosigkeit und dem Umstand, dass er in den vergangenen Jahren immer wieder gleichgelagerte Delikte begangen hat, eine ungünstige Rückfallprognose zu stellen ist; dies wird denn auch nicht bestritten. Eine ungünstige Rückfallprognose genügt jedoch für die Bejahung der Wiederholungsgefahr nicht. Neben dem Vortatenerfordernis kommt auch dem Kriterium der erheblichen Sicherheitsgefährdung eine eigenständige Tragweite zu (vgl. oben E. 2.2 und 2.4). Im Folgenden ist somit zu ermitteln, ob diese Tatbestandselemente erfüllt sind (vgl. oben E. 2.3).» (E.3.3).

Voraussetzung des Vortaterfordernisses offen gelassen

Das Bundesgericht hielt es aber für äusserst fraglich, ob im vorliegenden Fall das Vortatenerfordernis erfüllt ist, d.h. ob der Beschwerdeführer Verbrechen oder schwere Vergehen begangen hat. Die Vorinstanz bzw. das Zürcher Obergericht sieht in den neuen Vorwürfen gegen den Beschwerdeführer – Aufbrechen eines Fahrzeugs mit einem Gegenstand, Einschleichen in eine bewohnte Privatwohnung und Übersteigen einer Betonmauer in ein Privatgrundstück – eine neue Eskalationsstufe. Dazu ist zunächst zu bemerken, dass der Staatsanwalt gemäss seiner Mitteilung vom 9. November 2020 beabsichtigt, das Strafverfahren bezüglich das Aufbrechen eines Fahrzeuges einzustellen. Im Übrigen führt die Vorinstanz nicht aus, inwiefern es sich bei den zwei anderen Vorfällen um schwere Vergehen handeln soll; dies liegt auch nicht auf der Hand. Die Frage, ob das Vortatenerfordernis erfüllt ist, kann jedoch offen bleiben, da jedenfalls die erhebliche Sicherheitsgefährdung – wie im Folgenden ausgeführt wird – gemäss dem Bundesgericht nicht gegeben ist (E.3.4).

Schlussfolgerungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht kommt zu folgenden Konklusionen: «Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit und in den hier interessierenden mutmasslichen Straftaten nie eine Waffe mit sich geführt und auch nie Gewalt gegen Personen angewendet hat. Die von ihm begangenen Delikte sind zudem nicht schwer. Die einzelnen Deliktssummen belaufen sich auf einige hundert Franken. Daher erscheint die Gefahr gering, dass er in Zukunft ein schweres Vermögensdelikt im Sinne der Rechtsprechung (E. 2.2) begeht, nachdem er über Jahre Diebstähle mit geringfügigen Beträgen beging. Schliesslich verfolgt der Beschwerdeführer hinsichtlich der persönlichen finanziellen Lage der Geschädigten kein Muster; die geringfügigen Beträge, die der Beschwerdeführer behändigte, stellen für die Geschädigten soweit ersichtlich keinen grossen Schaden dar.  Die Vorinstanz nennt in ihrem Urteil keine konkreten Anhaltspunkte, die auf eine zukünftige Gewaltanwendung durch den Beschwerdeführer hindeuten würden. Sie führt jedoch aus, dass ein Einbruch- bzw. Einschleichdiebstahl die geschädigten Personen massiv in ihrem Sicherheitsgefühl beeinträchtigen und zu langanhaltenden gesundheitlichen Problemen führen könnten. Zwar kann es zutreffen, dass Einbruchdiebstähle für die Geschädigten sehr belastend sind. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung fallen Vermögensdelikte unter dem Blickwinkel der erheblichen Sicherheitsgefährdung jedoch nur in Betracht, wenn sie die Sicherheit der Geschädigten vergleichbar schwer beeinträchtigen wie ein Gewaltdelikt (vgl. oben E. 2.2 und Urteil 1B_616/2020 vom 22. Dezember 2020). Die Vorinstanz führt jedoch in ihrem Urteil nicht aus, inwiefern die Störung des Sicherheitsgefühls die Geschädigten vergleichbar treffen wie ein Gewaltdelikt; sie hält lediglich abstrakt fest, dass Einbruchdiebstähle zu Beeinträchtigungen führen können. Im vorliegenden Fall ist überdies nicht ersichtlich, inwiefern eine der geschädigten Personen vergleichbar schwer beeinträchtigt wurde wie durch ein Gewaltdelikt.   Es liegen somit keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschwerdeführer bei künftigen Vermögensdelikten Gewalt anwenden könnte. Die Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist zu verneinen.» (E.3.5).

Kommentare (0)

Wir verwenden Cookies, um unsere Website und Ihr Navigationserlebnis zu verbessern. Wenn Sie Ihren Besuch auf der Website fortsetzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zum Datenschutz finden Sie hier.

Akzeptieren