Bundesgericht konkretisiert im Urteil vom 9. April 2020 (6B_1265/2019) Rechtsprechung zu sexuellem Missbrauch von Kindern

Das Bundesgericht konkretisiert im Urteil vom 9. April 2020 (6B_1265/2019) die Rechtsprechung zum Schutz der sexuellen Freiheit von Kindern. Es äussert sich dabei im Zusammenhang mit den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung insbesondere zur Zwangssituation eines Kindes bei der Ausübung von psychischem Druck durch einen ihm nahestehenden Täter.

Ein Mann hatte die Tochter seiner Lebensgefährtin während rund zwei Jahren mehrfach sexuell missbraucht. Das Kind war dabei zwischen achteinhalb und zehneinhalb Jahren alt. Der Täter wurde vom Obergericht des Kantons Zürich 2019 wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern und weiterer Delikte zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Das Bundesgericht weist die Beschwerde des Mannes ab. Das Gericht bestätigt zunächst seine Rechtsprechung, wonach gegenüber einem Täter zusätzlich zu einer Verurteilung wegen sexueller Handlungen mit Kindern (Artikel 187 Strafgesetzbuch, StGB) auch die Straftatbestände betreffend Angriffe auf die sexuelle Freiheit (Artikel 189ff StGB, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) zur Anwendung gelangen können. Das Strafrecht schützt Kinder stärker als erwachsene Opfer. Mit dem Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern wird ihre seelische Entwicklung geschützt, während die weiteren Tatbestände gleich wie bei Erwachsenen ihre sexuelle Freiheit schützen.

In seinem Entscheid konkretisiert das Bundesgericht insbesondere die Anforderungen an das psychische „Unter-Druck-Setzen“ eines Kindes bei einer sexuellen Nötigung oder einer Vergewaltigung (sexuelle Nötigungstatbestände von Artikel 189 und 190 StGB) durch einen Täter aus seinem sozialen Nahraum. Der Verurteilte hatte die Aufhebung seiner entsprechenden Verurteilungen beantragt, da er für das Opfer keine Zwangssituation geschaffen habe. Die sexuellen Nötigungstatbestände erfordern, dass der Täter das Opfer bedroht, Gewalt anwendet, das Opfer unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht. Ein psychisches „Unter-Druck-Setzen“, welches das Kind in eine ausweglose Zwangssituation bringt, setzt voraus, dass es sich bereits einen Willen betreffend seine eigene sexuelle Freiheit bilden kann (sonst fällt der Tatbestand der Schändung gemäss Artikel 191 StGB in Betracht). Auf die Festlegung einer festen Altersgrenze, ab der sich ein Kind einen solchen Willen bilden kann, ist auch weiterhin zu verzichten. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Dabei ist gemäss Rechtsprechung nur mit Zurückhaltung anzunehmen, dass ein Kind diesbezüglich nicht urteilsfähig ist. Wenn bei Kindern bereits im weit vorpubertären Alter Urteilsfähigkeit angenommen wird – wie im vorliegenden Fall beim achteinhalb bis zehneinhalbjährigen Opfer –, so ist dennoch ihrer entwicklungsbedingten Unterlegenheit, der Beeinflussbarkeit der Willensbildung und der längst noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung Rechnung zu tragen. Ein psychisches „Unter-Druck-Setzen“ des Kindes durch einen Täter aus seinem sozialen Nahraum ist auch ohne aktive Ausübung von Zwang oder der Androhung von Nachteilen möglich. Auch der Täter, der dem Kind vorspiegelt, die sexuellen Handlungen seien normal, beziehungsweise als Gefälligkeit zu erbringen oder der Täter, der dem Kind weismacht, es handle sich um eine schöne Sache, die man gemeinsam erleben könne, schafft für das Kind eine dermassen ausweglose Situation, wie sie von den sexuellen Nötigungstatbeständen erfasst wird. Der Einfluss auf die Willensbildung des Opfers ist dabei umso grösser, je jünger das Opfer ist und je näher ihm der Täter steht. Sichert sich der Täter den Zustand einer Zwangssituation durch das Schaffen einer Geheimnissituation und hält er diese aufrecht, ist ohne weiteres davon auszugehen, dass die Ausweglosigkeit für das Kind andauert. Dies gilt auch dann, wenn dem Kind weis gemacht wird, es würde sich lächerlich machen, niemand würde ihm glauben oder müsste sich für seine Handlungen schämen, wenn Dritte davon erfahren würden.

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