Wichtige Praxisänderung Bundesgerichts im Urteil vom 11. Juli 2019 (9C_724/2018) zu Leistungen der Invalidenversicherung bei Suchterkrankung: Sucht wird als krankheitswertiges Geschehen angesehen und kann IV-relevant sein.

Das Bundesgericht ändert im Urteil vom 11. Juli 2019 (9C_724/2018) seine Rechtsprechung bezüglich des Anspruchs auf Leistungen der Invalidenversicherung bei Vorliegen einer Suchterkrankung. Künftig ist wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen anhand eines strukturierten Beweisverfahrens abzuklären, ob sich eine fachärztlich diagnostizierte Suchtmittelabhängigkeit auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt.

Gemäss bisheriger langjähriger Rechtsprechung des Bundesgerichts führten primäre Suchterkrankungen als solche grundsätzlich nicht zu einer Invalidität im Sinne des Gesetzes. IV-rechtlich wurde eine Suchterkrankung erst dann von Bedeutung, wenn diese in eine Krankheit oder einen Unfall mündete oder wenn die Sucht infolge einer Krankheit entstand. Diese Rechtsprechung ging letztlich davon aus, dass die süchtige Person ihren Zustand selber verschuldet habe und eine Abhängigkeit ohne Weiteres einem Entzug zugänglich sei.

Das Bundesgericht kommt in einem aktuellen Entscheid u.a. nach vertiefter Auseinandersetzung mit Erkenntnissen der Medizin zum Ergebnis, dass an der bisherigen Praxis nicht festzuhalten ist. Aus medizinischer Sicht handelt es sich bei einer Sucht klar um ein krankheitswertiges Geschehen. Es drängt sich insofern die gleiche Sichtweise auf wie bei anderen psychischen Störungen, bei denen im Einzelfall aufgrund objektiver Massstäbe beurteilt wird, ob die betroffene Person trotz des ärztlich diagnostizierten Leidens ganz oder teilweise einer (angepassten) Arbeit nachgehen kann. Die Rechtsprechung ist deshalb dahingehend zu ändern, dass einem fachärztlich einwandfrei diagnostizierten Abhängigkeitssyndrom beziehungsweise einer Substanzkonsumstörung nicht mehr zum vornherein jegliche IV-rechtliche Relevanz abgesprochen wird. Es ist wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen nach dem strukturierten Beweisverfahren (dazu BGE 141 V 281, Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 17. Juni 2015) zu ermitteln, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt.

Selbstverständlich gilt auch bei einem Abhängigkeitssyndrom die Pflicht zur Schadenminderung. Vom Betroffenen kann etwa die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden. Kommt er dieser Schadenminderungspflicht nicht nach und erhält somit seinen krankhaften Zustand aufrecht, ist eine Verweigerung oder Kürzung der Leistungen möglich.

Im konkreten Fall heisst das Bundesgericht die Beschwerde eines benzodiazepin- und opioidabhängigen Mannes gut, der erfolglos eine IV-Rente beantragt hatte. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die durchgeführte psychiatrische Begutachtung des Betroffenen, aus der eine Arbeitsunfähigkeit infolge Suchterkrankung resultierte, den Anforderungen an das strukturierte Beweisverfahren genügte. Da eine schrittweise Steigerung der Leistungsfähigkeit bei Weiterführung der therapeutischen Begleitung (u.a. mit kontrollierter Opioidabgabe) und nach allmählichem Benzodiazepinentzug bloss möglich, nicht jedoch innert bestimmter Frist überwiegend wahrscheinlich ist, besteht – vorerst – Anspruch auf eine IV-Rente. Der Leistungsanspruch des Mannes wird nach Durchführung der Therapie durch die IV-Stelle zu gegebener Zeit revisionsweise zu überprüfen sein.

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