Stadt Zürich haftet wegen grobem Selbstverschulden nicht für Tramunfall mit Fussgänger

Die Stadt Zürich haftet gemäss Urteil des Bundesgerichts 4A_179/2021 vom 20. Mai 2022 nicht für den schweren Unfall eines Mannes mit einem Tram der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ). Er war an einer Tramhaltestelle gestanden – den Blick auf sein Mobiltelefon gerichtet – als er unvermittelt und ohne nach links zu schauen den Gleisbereich betrat und vom Tram erfasst wurde. Da ein grobes Verschulden des Verletzten vorliegt, wird die Stadt Zürich von ihrer eisenbahnrechtlichen Haftpflicht entlastet.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Stadt Zürich gut und hebt den Entscheid des Zürcher Obergerichts auf.

Sachverhalt

Der Mann stand am 20. Februar 2019 an einer Tramhaltestelle mit dem Rücken zu einem einfahrenden Tram der VBZ. Sein Blick war auf das Mobiltelefon gerichtet, als er unvermittelt und ohne nach links zu schauen den Gleisbereich betrat. Er wurde vom Tram erfasst und schwer verletzt. In der Folge forderte er von der Stadt Zürich als Inhaberin der VBZ eine Genugtuung.

Vorinstanzen

Das Bezirksgericht Zürich bejahte 2020 die grundsätzliche Haftung der Stadt gemäss Eisenbahngesetz.

Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte den Entscheid 2021 (Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom 9. Februar 2021 (NP200020).

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 4A_179/2021 vom 20. Mai 2022

Das Bundesgericht heisst im Urteil 4A_179/2021 vom 20. Mai 2022 die Beschwerde der Stadt Zürich gut, hebt das Urteil des Obergerichts auf und weist die (Teil-)Klage des Verunfallten ab.

Gemäss dem Eisenbahngesetz haften Inhaber eines Eisenbahnunternehmens grundsätzlich für den Schaden, wenn die charakteristischen Risiken des Eisenbahnbetriebs zu einem Unfall führen, bei dem ein Mensch verletzt oder getötet wird oder ein Sachschaden entsteht. Der Inhaber wird von der Haftpflicht befreit, wenn das Verhalten der geschädigten Person als Hauptursache des Unfalls anzusehen ist, mithin der adäquate Kausalzusammenhang unterbrochen wird. Gemäss Strassenverkehrsgesetz ist die Strassenbahn gegenüber Fussgängern grundsätzlich vortrittsberechtigt.

Von einem groben Verschulden der geschädigten Person ist im Strassenverkehr auszugehen, wenn sie elementare Sorgfaltsregeln missachtet, beziehungsweise „äusserst unvorsichtig“ handelt. Das misst sich am Verhalten eines Durchschnittsmenschen. Im konkreten Fall handelte der Fussgänger grob fahrlässig, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete und – davon abgelenkt – unvermittelt das Tramtrassee betrat, ohne zuvor nach links zu schauen. Der Unfall ereignete sich bei schönem Wetter und trockener Strasse auf einer geraden Strecke mit übersichtlichen Verhältnissen. Fussgängern war es ohne Weiteres möglich, herannahende Trams von Weitem zu erkennen. Auch hatte die Stadt Zürich die Tramhaltestelle nicht besser zu sichern. Der Betroffene war zudem ortskundig. Zwar mögen über ihr Mobiltelefon gebeugte Fussgänger heute zum alltäglichen städtischen Strassenbild gehören. Das ändert aber nichts daran, dass auch Fussgänger die im Stadtverkehr gebotene Aufmerksamkeit aufbringen müssen. Der Mann hätte seinen Blick vom Mobiltelefon abwenden und nach allen Seiten Ausschau halten müssen. Stattdessen liess er nicht einmal ein Mindestmass an Sorgfalt walten. Sein verkehrsregelwidriges und äusserst unvorsichtiges Verhalten bildete daher, wie das Bundesgericht bemerkt, die Hauptursache des Unfalls.

Hier sind die wichtigsten Ausführungen des Bundesgerichts:

«Der Beschwerdegegner stand an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete seinen Blick auf das Mobiltelefon, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Dann kam es zur verhängnisvollen Kollision. Der Unfall ereignete sich bei schöner Witterung und trockener Strasse auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte es den Fussgängern, herannahende Trams auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem zu erkennen. Mehrere Augenzeugen bestätigten übereinstimmend, dass der Beschwerdegegner bei der Kollision und unmittelbar davor abgelenkt war, weil er sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigte. Er begab sich unvermittelt in den Gleisbereich, ohne das einfahrende Tram wahrzunehmen. Selbst wenn er kurz nach rechts auf ein anderes Tram geblickt haben sollte, steht fest, dass er vom Mobiltelefon abgelenkt war und das von links kommende Tram nicht beachtete. Es ist nicht entscheidend, ob sich der Beschwerdegegner während längerer Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigte, als er sich im Stadtverkehr fortbewegte. Es kann auch nicht ausschlaggebend sein, dass praktisch gleichzeitig ein Tram aus der Gegenrichtung in die Haltestelle einfuhr. Im Gegenteil hätte gerade dieser Umstand erhöhte Aufmerksamkeit vom Beschwerdegegner gefordert, was auch die Vorinstanz bemerkt hatte. Umso mehr hätte er den Blick vom Mobiltelefon abwenden und nach allen Seiten richten müssen.» (E.4.3.4).

«Daran ändert nichts, dass der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum gewohnten, alltäglichen städtischen Strassenbild gehören mag. Auch die Vorinstanzen anerkennen die Problematik, wenn sich ein solcher Fussgänger von einem Trottoir oder einer Traminsel entfernt, eine Fahrbahn betritt und weiterhin auf sein Mobiltelefon blickt.  Der Beschwerdegegner war unbestritten ortskundig. Die Gefahrensituation war ihm ohne weiteres bewusst. Er wohnte nur 600 Meter von der Tramhaltestelle entfernt. Es kann nicht gesagt werden, dass jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen dasselbe hätte passieren können. Auch hier geht es nicht um den moralischen Vorwurf, der dem Beschwerdegegner gemacht werden kann, sondern um die Frage, wie weit der Beschwerdeführerin die Folgen ihrer gefährlichen Tätigkeit noch zugerechnet werden können. Der Beschwerdegegner schuf die Gefahr völlig unnötig, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hätte der Beschwerdegegner das herannahende Tram auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem erkennen können. Doch er war von seinem Mobiltelefon abgelenkt. 

Es lag nicht an der Beschwerdeführerin, die Tramhaltestelle besser zu sichern. Vielmehr hätte der Beschwerdegegner ein Mindestmass an Sorgfalt walten lassen und zumindest kurz nach links blicken müssen, bevor er das Tramtrassee betrat. Der Beschwerdegegner weist zutreffend darauf hin, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem Bahnhof, bei dem das Betreten der Geleise verboten ist, und einer Tramhaltestelle, wo das Betreten der Geleise notwendige Voraussetzung für den öffentlichen Verkehr ist. Doch ändert dies nichts daran, dass er grobfahrlässig handelte, indem er das Tramtrassee betrat, ohne nach links zu blicken und sich stattdessen seinem Mobiltelefon widmete.» (E.4.3.5).

«In der Lehre wird kritisiert, dass das Selbstverschulden von Fussgängern bei unbesehenem Betreten der Geleise von Strassenbahnen derart schwer gewichtet wird, dass es an einer Adäquanz der Betriebsgefahr mangelt oder dass Haftungsquoten von weniger als einem Drittel resultieren. Das heutige Verkehrsaufkommen in den Städten erfordere von Fussgängern zum Teil eine sehr hohe Aufmerksamkeit und könne gerade in komplexen Verkehrssituationen zu Fehleinschätzungen des Tramverkehrs führen. Oft lasse das dichte und verzweigte Schienennetz gerade dem ortsunkundigen Fussgänger nur wenig Bedenkzeit, in welche Richtung er sich bewegen könne und welche Fahrtrichtung das Tram aufnehme. Insofern erscheine es angezeigt, grobes Selbstverschulden nur bei völlig unbedachtem und unbesehenem Betreten der Geleise anzunehmen. Selbst in solchen Fällen sei zu bedenken, dass die Betriebsgefahr des Trams nur ausnahmsweise als Ursache des Unfalls komplett in den Hintergrund tritt (HÜRZELER, a.a.O., S. 137 f.). Was von dieser Lehrmeinung zu halten ist, kann offenbleiben. Denn im vorliegenden Fall hilft sie dem Beschwerdegegner ohnehin nicht. Er war zweifellos ortskundig. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ereignete sich der Unfall bei schöner Witterung und trockenem Strassenzustand auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte dem Beschwerdegegner, die Trams von Weitem zu erkennen, selbst wenn gleichzeitig ein Bus hielt. Es gab keine Hindernisse, welche die Sicht behinderten. Somit lag keine komplexe Verkehrssituation vor, die zu einer Fehleinschätzung des Tramverkehrs führte. Vielmehr begab sich der Beschwerdegegner unvermittelt in den Gleisbereich. Er nahm das einfahrende Tram nicht wahr, weil er durch sein Mobiltelefon abgelenkt war und nicht nach links schaute. Damit liegt ein völlig unbedachtes und unbesehenes Betreten der Geleise vor. Weshalb auch in solchen Fällen die Betriebsgefahr des Trams als Ursache des Unfalls nur ausnahmsweise komplett in den Hintergrund treten soll, begründet der betreffende Autor nicht.» (E.4.3.6).

Das Bundesgericht kommt zur Schlussfolgerung: «Nach dem Gesagten erscheint das verkehrsregelwidrige Verhalten des Beschwerdegegners als Hauptursache des Unfalls. Die Voraussetzungen für eine Entlastung von der Haftpflicht nach Art. 40c EBG sind erfüllt.» (E.4.4).

 

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