Gemäss bisheriger Rechtsprechung bewirkte eine Adipositas (starkes Übergewicht) grundsätzlich keine Invalidität, die zu einer Rentenleistung berechtigt, beziehungsweise nur dann, wenn die Adipositas körperliche oder geistige Gesundheitsschäden verursachte oder die Folge von solchen Schäden bildete. Diese Rechtsprechung ging letztlich davon aus, dass das starke Übergewicht willentlich überwindbar sei. Entwickelt hatte sich diese Praxis auf der Grundlage von derjenigen zu Suchterkrankungen.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 8C_104/2024 vom 22. Oktober 2024
Das Bundesgericht passte seine diesbezügliche Rechtsprechung (auch als Folge der Praxisänderung zu leichten oder mittelschweren Depressionen) dann aber an (BGE 145 V 215). Demnach sollte künftig in einem strukturierten Beweisverfahren ermittelt werden, inwiefern sich die Beeinträchtigung im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirkt.
Es ist kein Grund ersichtlich, die bisherige Sonderrechtsprechung zu Adipositas aufrechtzuerhalten. Dabei ist mitzuberücksichtigen, dass es sich bei der Adipositas um eine chronische, komplexe somatische (körperliche) Krankheit handelt. Die Rechtsprechung ist deshalb dahingehend zu ändern, dass die grundsätzliche Behandelbarkeit einem Rentenanspruch nicht per se entgegensteht.
Im Einzelfall ist danach zu fragen, wie sich die Krankheit in Bezug auf die Leistung limitierend auswirkt. Selbstverständlich gilt auch bei einer Adipositas die Pflicht zur Schadenminderung.
Ein Anspruch auf eine IV-Rente setzt in diesem Sinne voraus, dass die betroffene Person zumutbare diätische oder medikamentöse Therapien, Verhaltenstherapien oder Bewegungsprogramme unternimmt. Im konkreten Fall heisst das Bundesgericht die Beschwerde einer Frau mit einer Adipositas Grad III und einem Bodymassindex von 58 teilweise gut, die erfolglos eine IV- Rente beantragt hatte. Es steht fest, dass es die Beschwerdeführerin auf jeden Fall nicht in der Hand hat, per sofort eine 100-prozentige Arbeitsfähigkeit herzustellen. Die IV-Stelle wird neu entscheiden müssen. Dabei werden mit Blick auf die Schadenminderungspflicht auch medizinische Abklärungen zu treffen sein.
Schlüsselstellen im Urteil 8C_104/2024 vom 22. Oktober 2024 des Bundesgerichts
«Zusammenfassend ist die Rechtsprechung zur Adipositas dahingehend zu ändern, dass die grundsätzliche Behandelbarkeit des Leidens einem Rentenanspruch nicht per se entgegensteht. Die versicherte Person ist aber an ihre Schadenminderungspflicht zu erinnern (vgl. Urteile 8C_219/2009 vom 25. August 2009 E. 4.2; I 22/05 vom 6. Juni 2006 E. 7.1.3; I 291/05 vom 31. März 2006 E. 3.2).
Daraus ist nun aber – entgegen der Auffassung des BSV – nicht zu schliessen, dass es zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zwingend eines strukturierten Beweisverfahrens im Sinne von BGE 141 V 281 bedarf. Letzterer Grundsatzentscheid war in erster Linie eine Antwort auf die markante Beweisproblematik im Zusammenhang mit den psychosomatischen Störungen (ANDREAS TRAUB, BGE 141 V 281 – Auswirkungen des Urteils auf weitere Fragestellungen, in: Ueli Kieser (Hrsg.), Sozialversicherungsrechtstagung 2016, Zürich/St. Gallen 2017, S. 148). Später hat das Bundesgericht erkannt, dass psychische Leiden generell wegen ihres Mangels an objektivierbarem Substrat dem direkten Beweis einer anspruchsbegründenden Arbeitsunfähigkeit nicht zugänglich seien, weshalb dieser Beweis indirekt, behelfsweise, mittels Indikatoren zu führen sei (BGE 143 V 418 E. 7.1). Bei einer Adipositas – wie auch bei anderen körperlichen Leiden – zeigt sich die Beweisproblematik in der Regel nicht in gleicher Weise. Es ist deshalb von der Sache her weder gerechtfertigt noch effizient, sämtliche Indikatoren aus BGE 141 V 281 auf alle Erkrankungen zu übertragen (vgl. auch JÖRG JEGER, BGE 141 V 281: Ein Sommernachtstraum oder viel Lärm um nichts?, in: HAVE 2/2018, S. 16). Wie bei jeder geltend gemachten gesundheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit ist im Einzelfall (einzig) danach zu fragen, ob und wie sich die Krankheit leistungslimitierend auswirkt (vgl. BGE 143 V 409 E. 4.5.2 betreffend depressive Störungen). Je nach Grösse der Beweislücke zwischen strukturellem Befund und funktioneller Folge kann sich dabei ein grösserer oder geringerer Beurteilungsaufwand ergeben (vgl. ANDREAS TRAUB, a.a.O., S. 149).» (E.5.11).
«Fallspezifisch ergibt sich aus den vorangehenden Erwägungen Folgendes: Die Beschwerdeführerin ist nach gutachterlicher Einschätzung aufgrund der Kniebeschwerden, der verminderten Belastbarkeit des Achsenskeletts, der massiven Adipositas und der generalisierten Dekonditionierung seit April 2016 selbst in einer angepassten Tätigkeit zu 80 % eingeschränkt. Eine erhebliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit ist frühestens nach neun Monaten zu erwarten, wobei die ärztlichen Angaben zur Therapierbarkeit der Adipositas im hier zu beurteilenden Fall nicht aufschlussreich sind, wie auch das BSV bemerkt hat. Wohl wird der Beschwerdeführerin eine Gewichtsabnahme empfohlen und bei Erfolg eine Arbeitsfähigkeit von 70 bis 80 % prognostiziert. Die Gutachter erachten entsprechende Massnahmen auch als medizinisch zumutbar. Gleichzeitig scheinen sie aber hinsichtlich der Erfolgsaussichten wenig optimistisch zu sein. Der Grund dieser Zurückhaltung geht aus den beiden Expertisen nicht eindeutig hervor. Insbesondere bleibt unklar, was die Experten mit dem Hinweis auf den bisherigen Verlauf meinen. Aktenkundig ist ein stationärer Aufenthalt in der RehaClinic Baden vom 30. Januar bis zum 2. März 2018. Daraus resultierte offenbar eine Gewichtsreduktion von gerade einmal 2 kg (von 139 kg zu 137 kg), wie die Vorinstanz verbindlich feststellte. Allerdings erfolgte diese Therapie in erster Linie mit dem Ziel der Schmerzreduktion und der Verbesserung der Mobilität. Immerhin war die Beschwerdeführerin bei Austritt an einem Rollator für maximal 30 m „klinikmobil“. Gehversuche ausserhalb der Klinik führten offenbar regelmässig zu schmerzhaften periartikulären Knieschwellungen. Im November 2021 wog die Beschwerdeführerin bereits wieder 149 kg.
Mit Blick auf die Angaben in den beiden Administrativgutachten steht zumindest fest, dass es die Beschwerdeführerin nicht in der Hand hat, per sofort eine 100%ige Arbeitsfähigkeit herzustellen. Damit unterscheidet sich der hier zu beurteilende Fall massgeblich von dem in BGE 148 V 397 beurteilten Sachverhalt (vgl. E. 7.2.3 des zitierten Urteils). Soweit die Vorinstanz im Übrigen davon ausgeht, der bisherige frustrane Verlauf sei Folge der von der Beschwerdeführerin präsentierten, mit den somatischen Befunden nicht „korrelierbaren“ Beschwerden sowie ihrer faktischen Immobilität und Passivität und nicht im Sinne einer objektiven Unmöglichkeit zu beurteilen, steht dies im Widerspruch zu den Angaben im BEGAZ-Gutachten. So bezeichneten die Gutachter etwa die Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule im Gesamtkontext der Fehlform der Wirbelsäule und vor allem der Adipositas und Dekonditionierung als nachvollziehbar. Die Validität der erhobenen Befunde sei gewährleistet.» (E.6.1).
«Die Beschwerde ist somit begründet. Die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese über den Rentenanspruch der Beschwerdeführerin unter Einbezug der Auswirkungen der Adipositas und der diese begleitenden Dekonditionierung neu entscheide. Da entgegen der Verfügung der IV-Stelle vom 4. Mai 2023 im massgeblichen Vergleichszeitraum keine gesundheitliche Verbesserung, sondern eine Verschlechterung eingetreten ist, gilt es auch die Einschränkung im Aufgabenbereich neu abzuklären. Mit Blick auf die Schadenminderungslast der Beschwerdeführerin (vgl. E. 5.10 hiervor) wird die IV-Stelle in Bezug auf die zumutbaren Massnahmen und das individuelle Therapiekonzept ferner die notwendigen medizinischen Abklärungen zu tätigen haben. Sie wird sich nach dem Gesagten nicht auf den Standpunkt stellen können, die Beschwerdeführerin habe aufgrund der Empfehlungen der Ärzte seit langem gewusst, dass sie im Rahmen ihrer Schadenminderungspflicht eine Gewichtsreduktion und ein Ausdauer-/Krafttraining hätte durchführen müssen. Denn der Zustand, wie er bei Ausschöpfung aller zumutbaren schadenmindernden Vorkehren erreicht werden könnte, ist nur anrechenbar, wenn das Mahn- und Bedenkzeitverfahren nach Art. 21 Abs. 4 ATSG durchgeführt wurde (Urteil 8C_219/2009 vom 25. August 2009 E. 5.5). Die Beschwerde ist in diesem Sinne begründet.» (E.6.2).