Keine Änderung der Bestimmung des Invaliditätsgrades mit LSE-Tabellenlöhnen

Das Bundesgericht hält im öffentlich beratenen Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022 eine Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung zur Ermittlung des Invaliditätsgrades anhand der Tabellenlöhne der LSE nicht für angezeigt. Es liegen keine ernsthaften sachlichen Gründe für eine Änderung der Praxis vor.

Für die korrekte Festlegung des Invaliditätsgrades sind gemäss dem Entscheid des Bundegerichts im 8C_256/2021 vom 9. März 2022 die bisher angewandten Korrekturinstrumente von zentraler Bedeutung. Eine Änderung der Rechtsprechung zum heutigen Zeitpunkt wäre mit Blick auf die per 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Anpassungen des Bundesgesetzes und der Verordnung über die Invalidenversicherung ohnehin nicht opportun.

Der Invaliditätsgrad einer Person wird in der Regel durch einen Einkommensvergleich ermittelt: Das Einkommen, das die behinderte Person nach Eintritt der Invalidität durch eine ihr zumutbare Tätigkeit tatsächlich erzielt oder erzielen könnte (Invalideneinkommen) wird dem Einkommen gegenübergestellt, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Valideneinkommen). Anhand der so ermittelten Einkommenseinbusse bestimmt sich der Invaliditätsgrad. Soweit konkrete Zahlen vorliegen – die betroffene Person vor oder nach Eintritt der Invalidität also eine Erwerbstätigkeit ausübt – wird grundsätzlich auf diese Werte abgestellt.

Übt die invalide Person dagegen keine oder keine ihr zumutbare Tätigkeit aus, können gemäss bisheriger Rechtsprechung die Tabellenlöhne der LSE (zweijährliche Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik) herangezogen werden. Dabei ist in der Regel vom Medianwert der standardisierten Bruttolöhne auszugehen (Medianwert = zentraler Wert, die Hälfte verdient weniger, die andere Hälfte mehr). Bei der Anwendung der Tabellenlöhne zur Bestimmung des Invalideneinkommens wird von Gesetzes wegen ein „ausgeglichener Arbeitsmarkt“ (Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften) zu Grunde gelegt und nicht die konkrete Arbeitsmarktlage. Unter Berücksichtigung des Einzelfalls kann sodann vom ermittelten Tabellenlohn ein leidensbedingter Abzug („Leidensabzug“) bis maximal 25 % vorgenommen werden. Eine weitere Korrektur ist möglich, wenn die betroffene Person aus invaliditätsfremden Gründen bereits vor Eintritt der Invalidität unfreiwillig ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen bezogen hat („Parallelisierung“).

Im konkreten Fall im Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022 des Bundesgerichts führt eine Person Beschwerde gegen die gemäss dieser Praxis unter dem bis 31. Dezember 2021 geltenden IV-Recht erfolgte Festsetzung ihres Invaliditätsgrades. Sie bringt vor, dass die Rechtsprechung in diesem Bereich diskriminierend sei. Gemäss neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen1 würden behinderte Personen mit der Anwendung des Medianwerts der LSE systematisch schlechter gestellt. Die Tabellenlöhne würden weitgehend die Löhne von Gesunden widerspiegeln. Um den behinderungsbedingten Folgen beim möglichen Invalideneinkommen angemessen Rechnung zu tragen, würden die Experten unter anderem vorschlagen, vom untersten Quartil der Tabellenlöhne auszugehen (unterstes Quartil = Viertelwert, ein Viertel verdient weniger, drei Viertel verdienen mehr) anstatt vom Medianwert. Weiter seien Tabellen aufgrund geeigneter Tätigkeiten zu erarbeiten und per sofort klare und realistische Abzüge vom Tabellenlohn festzulegen.

Das Bundesgericht weist im Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022 die Beschwerde an seiner öffentlichen Beratung vom Mittwoch ab. Die vorgebrachten Gründe rechtfertigen keine Änderung der Rechtsprechung. Die Ermittlung des Invaliditätsgrades ist in den Grundzügen gesetzlich geregelt.

Mit dem Konzept des ausgeglichenen Arbeitsmarktes (gemäss Artikel 16 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, ATSG) geht der Gesetzgeber grundsätzlich davon aus, dass auch gesundheitlich eingeschränkten Personen ein ihren Fähigkeiten entsprechender Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Von diesem gesetzlichen Konzept darf nicht abgewichen werden, indem stattdessen konkret existierende Erwerbsmöglichkeiten oder konkrete Arbeitsmarktverhältnisse beigezogen werden.

Nicht näher gesetzlich geregelt war bis anhin die Ermittlung des Validen- und des Invalideneinkommens. Primär wird dabei gemäss bisheriger Rechtsprechung auf die konkreten Verhältnisse abgestellt, also auf den tatsächlich erzielten Lohn vor oder nach Eintritt der Invalidität. Nur wenn dies nicht möglich ist, wird auf die Lohnstatistik zurückgegriffen, in der Regel auf die LSE-Tabellenlöhne. Die Verwendung der LSE zur Bemessung der Invalidität ist somit „ultima ratio“. Die LSE beruht auf einer alle zwei Jahre bei den Unternehmen in der Schweiz durchgeführten Befragung. Sie stützt sich damit auf umfassende und konkrete Daten aus dem effektiven Arbeitsmarkt. Der Medianlohn der standardisierten Bruttolöhne der LSE, von dem gemäss bisheriger bundesgerichtlicher Praxis auszugehen ist, eignet sich dabei grundsätzlich als Ausgangswert zur Ermittlung des Invalideneinkommens.

Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass eine beeinträchtigte Person ihre verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt unter Umständen nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichen Erfolg verwerten kann, gewährt die bisherige Rechtsprechung die Möglichkeit des Leidensabzugs vom Tabellenlohn von bis zu 25 %. Diesem Abzug kommt als Korrekturinstrument bei der Festsetzung eines möglichst konkreten Invalideneinkommens überragende Bedeutung zu. Mit Blick auf die Möglichkeit des Leidensabzugs hat es das Bundesgericht bisher denn auch ausdrücklich abgelehnt, auf das unterste Quartil des Tabellenwerts abzustellen.

Ein weiteres Korrekturinstrument bildet die Parallelisierung. Damit wird ebenfalls der Zweck verfolgt, beim Einkommensvergleich dem Einzelfall Rechnung zu tragen. Inwiefern die Ermittlung des Invalideneinkommens anhand des Medianwerts der LSE, allenfalls korrigiert mittels der erwähnten Instrumente, diskriminierend sein soll, ist nicht ersichtlich.

Aus dem Umstand, dass die Voraussetzungen für eine Praxisänderung heute nicht erfüllt sind, kann nicht abgeleitet werden, dass sich die Rechtsprechung – insbesondere unter dem per 1. Januar 2022 revidierten Bundesgesetz und der Verordnung über die Invalidenversicherung – nicht weiterentwickeln kann. Eine Änderung der Rechtsprechung zum heutigen Zeitpunkt wäre aber auch mit Blick auf die nunmehr in Kraft getretene Revision nicht opportun. Diese betrifft die Verwendung der Tabellenlöhne für den Einkommensvergleich und die Korrekturinstrumente. Dazu hat sich das Bundesgericht im vorliegenden Fall nicht zu äussern.

1u.a statistisches Gutachten „Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung“ des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS AG); Rechtsgutachten „Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung“ und die Schlussfolgerungen daraus, von Prof. Dr. iur. Gächter, Dr. iur. Egli, Dr. iur. Meier und Dr. iur. Filippo; ergänzende Eingabe „Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn“ von Prof. em. Riemer Kafka und Dr. phil. Schwegler.

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