Sachverhalt
Eine Mieterin in der Stadt Basel hatte im September 2018 von der Vermieterin die Behebung von Mängeln an dem von ihr gemieteten Lagerraum verlangt. Für den Fall, dass die Mängel nicht behoben würden, drohte sie ihrer Vermieterin die Hinterlegung der Mietzinsen bei der Schlichtungsstelle an.
Nachdem die Mängel nicht behoben wurden, zahlte die Mieterin keine Miete mehr. Sie hinterlegte die Miete für Oktober und November erst bei der Schlichtungsstelle, nachdem bereits die Novembermiete fällig geworden und sie von der Vermieterin gemahnt worden war. Im Dezember kündigte die Vermieterin nach Fristablauf das Mietverhältnis wegen Zahlungsrückstandes.
Instanzenzug
Das Zivilgericht Basel-Stadt wies die Mieterin 2020 an, den Lagerraum zu räumen.
Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigte den Entscheid am 24. September 2020 (ZB.2020.21).
Urteil des Bundesgerichts 4A_571/2020 vom 23. März 2021
Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Mieterin ab. Bei einem Mangel an gemieteten unbeweglichen Sachen wie Wohn- oder Geschäftsräumen kann der Mieter den Mietzins bei der zuständigen Stelle hinterlegen. Zuvor muss der Mieter dem Vermieter schriftlich eine Frist zur Behebung des Mangels ansetzen und ihm die Hinterlegung androhen. Die Hinterlegung muss zudem angekündigt werden.
Noch nicht geklärt hatte das Bundesgericht bisher die Frage, ob auch ein bereits fälliger Mietzins (der also vom Mieter bereits zu zahlen gewesen wäre), mit der Wirkung einer Bezahlung gegenüber dem Vermieter hinterlegt werden kann.
Das Bundesgericht kommt aufgrund einer Auslegung zum Schluss, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr können mit der Wirkung einer Bezahlung nur künftige Mietzinsen hinterlegt werden. Im konkreten Fall erfüllte die Mieterin diese Voraussetzung nicht, womit die Mieten durch die Hinterlegung nicht als bezahlt gelten. Da die hinterlegten Mietzinsen auch nicht innert der gestellten Zahlungsfrist an die Vermieterin weitergeleitet bzw. dieser anderweitig direkt bezahlt wurden, ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden.
Die Hinterlegung des Mietzinses ist nach den Ausführungen des Bundesgerichts allgemein gemäss Art. 259g Abs. 1 OR zulässig, wenn (1.) ein Mangel an der (unbeweglichen) Mietsache vorliegt, (2.) der Mieter vom Vermieter die Beseitigung des Mangels verlangt hat sowie ihm dazu (3.) schriftlich eine angemessene Frist angesetzt und (4.) die Hinterlegung angedroht hat. Weiter hat die Hinterlegung (5.) bei einer vom Kanton bezeichneten Stelle zu erfolgen und kann (6.) ausschliesslich in Zukunft fällige Mietzinse betreffen. Überdies hat der Mieter (7.) die Hinterlegung dem Vermieter schriftlich anzukündigen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, gelten die Mietzinse mit der Hinterlegung als bezahlt (Art. 259g Abs. 2 OR). Die Hinterlegung ist diesfalls Erfüllungssurrogat (BGE 125 III 120 E. 2a S. 121; HANS GIGER, Berner Kommentar, 2015, N. 23 zu Art. 259g OR; HIGI/ WILDISEN, Zürcher Kommentar, 5. Aufl. 2019, N. 12 zu Art. 259g OR; MARIUS SCHRANER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2000, N. 98 zu Art. 92 OR). (E.3.3.1).
Eine fehlerhafte Hinterlegung soll gemäss herrschender Lehre die Erfüllungswirkung grundsätzlich ausschliessen (GIGER, a.a.O., N. 23 zu Art. 259g OR; HIGI/WILDISEN, a.a.O., N. 11 und 43 zu Art. 259g OR; HULLIGER/HEINRICH, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Vertragsverhältnisse Teil 1, 3. Aufl. 2016, N. 7 zu Art. 259g-i OR; MATTHIAS TSCHUDI, in: Das schweizerische Mietrecht, 4. Aufl. 2018, N. 39 und 41 f. zu Art. 259g OR; ROGER WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, N. 14 zu Art. 259g OR; zur Ausnahme der Hinterlegung bei gutgläubiger, aber irriger, Annahme eines Mangels durch den Mieter: BGE 125 III 120 E. 2b S. 122; Urteil 4A_739/2011 vom 3. April 2012 E. 2.4). Wird ein bereits fälliger Mietzins hinterlegt, tritt die Befreiungswirkung von Art. 259g Abs. 2 OR dieser Ansicht zufolge nicht ein (statt vieler HIGI/WILDISEN, a.a.O., N. 57 zu Art. 259g OR; CLAUDE ROY, Mietrecht für die Praxis, 9. Aufl. 2016, S. 268; TSCHUDI, a.a.O., N. 31 zu Art. 259g OR). Ein Teil der Lehre und der Rechtsprechung spricht sich – zumindest für jenen Fall, da sich der Mieter mit den Mietzinsen im Zahlungsrückstand befindet und ihm der Vermieter eine Zahlungsfrist nach Art. 257d Abs. 1 OR angesetzt hat – demgegenüber dafür aus, dass der Mietzins bei Hinterlegung innert der Zahlungsfrist von Art. 257d Abs. 1 OR als bezahlt gelte, was eine ausserordentliche Kündigung wegen Zahlungsverzugs ausschliesse. Begründet wird dies damit, dass kein Grund ersichtlich sei, den Mieter, der den Mietzins verspätet hinterlege, anders zu behandeln als denjenigen, der den Mietzins zu spät (aber noch innert der Zahlungsfrist von Art. 257d Abs. 1 OR) bezahle (Urteil der Cour de Justice des Kantons Genf vom 10. Mai 2004, in: mp 2005 S. 279; HIGI/WILDISEN, a.a.O., N. 58 zu Art. 259g OR). (E.3.3.2).
Weiter führte das Bundesgericht bezüglich dem Verhältnis von Hinterlegung und Zahlungsverzug aus und nahm auch zu seiner bisher uneinheitlichen Praxis Stellung: «Das Bundesgericht hat sich mit dieser Frage bisher zwar noch nicht näher auseinandergesetzt, äusserte sich indes trotzdem verschiedentlich dazu – und zwar uneinheitlich: Im Urteil 4A_368/2007 vom 7. November 2007 E. 2.4 hielt es fest, dass sich aus dem klar umschriebenen Zweck der Hinterlegung ergebe, dass mit dieser keine Tilgung bereits fällig gewordener Mietzinse erreicht werden könne, sondern nur künftig fälliger. Demgegenüber erwog es im Urteil 4A_140/2014 vom 6. August 2014 E. 5.2, unter Verweis auf DAVID LACHAT, Le bail à loyer, 2008, S. 668 f., dass der Mieter nach Erhalt der Kündigungsandrohung die Auflösung des Mietvertrags durch Zahlung des geschuldeten (fälligen) Mietzinses oder durch dessen Hinterlegung abwenden könne. Nachfolgend gilt es zu klären, welche Ansicht vorzuziehen ist.» (E.3.3.2 a.E.).
Das Bundesgericht nahm nachfolgend die Auslegung der Bestimmung in Angriff. Das Gesetz ist gemäss dem Bundesgericht in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen (sprachlich-grammatikalisches Element). Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss das Gericht unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat es insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historisches Auslegungselement). Weiter hat das Gericht nach dem Zweck und den dem Text zu Grunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologisches Element). Zu berücksichtigen ist ferner die systematische Stellung der Norm im Kontext und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematisches Element). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE 146 III 217 E. 5 S. 218 f.; 145 III 324 E. 6.6 S. 334; 144 III 29 E. 4.4.1 S. 34 f.; 131 III 314 E. 2.2 S. 315 f.; 121 III 460 E. 4a/bb S. 465; je mit Hinweisen). (E.3.3.2.1).
Zur Auslegung des Wortlauts nimmt das Bundesgericht wie folgt Stellung: «Der Wortlaut von Art. 259g Abs. 2 OR beantwortet nicht eindeutig, ob auch die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse schuldtilgend wirkt. Eine Hinterlegung ist auch in diesem Fall möglich. Allerdings genügt sie diesfalls nicht den Voraussetzungen von Art. 259g Abs. 1 OR, dessen klarem Wortlaut zufolge die Hinterlegung nur für „Mietzinse[,] die künftig fällig werden“ zulässig ist (siehe auch Botschaft vom 27. März 1985 zur Revision des Miet- und Pachtrechts, BBl 1985 I 1415 Ziff. 412.1 und 1437 Ziff. 421.106). Betrachtet man den Wortlaut des gesamten Art. 259g OR, spricht dieser eher dafür, dass die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse nicht schuldtilgend ist.» (E.3.3.2.2).
Weiter geht es mit der historischen Auslegung: «Gemäss der Botschaft des Bundesrates im Hinblick auf den Erlass von Art. 259g OR (und weiterer Bestimmungen) sollte mit der Einführung des Rechts zur Hinterlegung künftig fällig werdender Mietzinse bei Mangelhaftigkeit der Mietsache ein Dreifaches erreicht werden: Erstens werde dem Mieter damit „ein Druckmittel“ in die Hand gegeben, „um vom Vermieter die Beseitigung des Mangels zu verlangen“; zweitens werde damit vermieden, „dass illiquide, schikanös handelnde Mieter dieses Recht einsetzen können“; und drittens werde damit „das Gespräch zwischen Mieter und Vermieter gefördert“ (BBl 1985 I 1416 Ziff. 412.1). Der zweitgenannte Zweck bezieht sich dabei offenkundig auf die den zitierten Passagen in der Botschaft vorangegangene Aufzählung der Voraussetzungen der Zulässigkeit der Hinterlegung (schriftliche Benachrichtigung des Vermieters, Ausschluss der Hinterlegbarkeit bereits fälliger Mietzinse sowie Anrufung der Schlichtungsbehörde innert 30 Tagen; vgl. BBl 1985 I 1415 f. Ziff. 412.1). Während sowohl dem ersten (Druckmittel) als auch dem dritten Zweck (Förderung der Gesprächsbereitschaft) auch dann Genüge getan werden könnte, wenn die Erfüllungswirkung durch die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse eintreten würde, würde diese der zweiterwähnten Zweckbestimmung zumindest dann entgegenstehen, wenn der Mieter den Mietzins lediglich hinterlegt, um den Vermieter zu schikanieren. In der Botschaft wird weiter mehrfach ausdrücklich erwähnt, dass die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse ausgeschlossen sein soll (siehe BBl 1985 I 1415 Ziff. 412.1, 1437 Ziff. 421.106). Des Weiteren erklärt die Botschaft, Abs. 2 von Art. 259g OR präzisiere, dass hinterlegte Mietzinse als bezahlt gelten (BBl 1985 I 1437 Ziff. 421.106). Indem der Bundesrat von einer Präzisierung sprach, wird deutlich, dass er Art. 259g Abs. 2 OR als auf Art. 259g Abs. 1 OR aufbauend betrachtete. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte demzufolge die Hinterlegung lediglich dann befreiend wirken, wenn die Voraussetzungen von Art. 259g Abs. 1 OR, zu welchen – wie erwähnt – auch die fehlende Fälligkeit zählt, gegeben sind.» (E.3.3.2.3).
Zur systematischen Auslegung erklärt das Bundesgericht Folgendes: «Zu demselben Ergebnis gelangt man bei Berücksichtigung der Gesetzessystematik: Während in Art. 259g Abs. 1 OR die Voraussetzungen der Hinterlegung aufgezählt werden, regelt der zweite Absatz, welche Wirkung die Hinterlegung zeitigt, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind. Letztere Bestimmung ist systematisch lediglich eine Weiterführung von Abs. 1, weshalb sie in Berücksichtigung der in Abs. 1 statuierten Voraussetzungen zu lesen ist.» (E.3.3.2.4).
Die Einführung des Hinterlegungsrechts war, wie das Bundesgericht bemerkt, eine Mittellösung zwischen dem weitergehenden Vorschlag der Expertenkommission, der dem Mieter das Recht einräumen wollte, ohne Weiteres den Mietzins herabzusetzen, und dem damals geltenden Recht, das dem Mieter weder den einen noch den anderen Rechtsbehelf einräumte (BBl 1985 I 1437 Ziff. 421.106). Das Hinterlegungsrecht bezweckt damit zum einen, das Inkassorisiko von Mieter und Vermieter zu reduzieren – sei es weil Ersterem ein Anspruch auf teilweise Rückerstattung des Mietzinses zusteht oder Letzterem ein Anspruch auf Bezahlung eines reduzierten Mietzinses. Andererseits verleiht die Möglichkeit der Hinterlegung dem Mieter ein – im Vergleich zur direkten Anrufung des Gerichts – leicht verfügbares Druckmittel, um den Vermieter zum Tätigwerden zu bewegen. Indem Art. 259g Abs. 2 OR die Erfüllungswirkung vorsieht, wird gleichzeitig verhindert, dass der untätige Vermieter den Mietvertrag wegen Zahlungsverzugs kündigen könnte. Würde die Erfüllungswirkung auch bei Hinterlegung bereits fällig gewordener Mietzinse bejaht, führte dies zwar zu einer Schlechterstellung des Vermieters, doch widerspräche eine derartige Auslegung nicht dem Zweckgedanken des Instituts der (mietrechtlichen) Hinterlegung. (E.3.3.2.5).
Das Bundesgericht kommt anschliessend zur entscheidenden Schlussfolgerung, dass falls ein Mieter im Zeitpunkt der Hinterlegung bereits fällige Mietzinse hinterlegt, dies keine Tilgung der Mietzinsschuld zu bewirken vermag, und zwar wie folgt: «Die Auslegung hat gezeigt, dass das sprachlich-grammatikalische Element keinen eindeutigen Aufschluss darüber gibt, ob die Erfüllungswirkung von Art. 259g Abs. 2 OR auch bei der Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse eintritt. Das teleologische Auslegungselement führt zwar zu keiner positiven Erkenntnis, doch wäre eine weite Auslegung von Art. 259g Abs. 2 OR unter Einschluss bereits fälliger Mietzinse jedenfalls mit dem Zweck der Hinterlegung vereinbar. Demgegenüber spricht sowohl das historische als auch das systematische Element gegen eine derartige Annahme. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass der Eintritt der Erfüllungswirkung nach Art. 259g Abs. 2 OR verlangt, dass die Voraussetzungen von Art. 259g Abs. 1 OR erfüllt sind. Hinterlegt ein Mieter im Zeitpunkt der Hinterlegung bereits fällige Mietzinse, vermag die Hinterlegung keine Tilgung der Mietzinsschuld zu bewirken.» (E.3.3.2.6).
Kommentar zum Urteil des Bundesgerichts 4A_571/2020 vom 23. März 2021
Das Bundesgericht hat in diesem Urteil die bisher nicht höchstgerichtlich geklärte Frage beantwortet, ob auch bereits fällige Mietzinse hinterlegt werden können. Nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit verschiedenen Auslegungsmethoden hat das Bundesgericht dies verneint. Das Leiturteil des Bundesgerichts überzeugt und wird auch für die mietrechtliche Praxis eine grosse Bedeutung haben.