Das Bundesgericht erlaubt negative Feststellungswiderklage auch bei unechter Teilklage (Urteil 4A_29/2019 vom 10. Juli 2019)

Das Bundesgericht befasste sich im Urteil mit der Frage, ob es im Fall, wo ein Arbeitnehmer behauptet, es stünde ihm gegen den Arbeitgeber eine „Gesamtforderung aus Überzeitentschädigungen aus den Jahren 2014, 2015 und 2016 im Umfang von CHF 51’850.-“ zu, jedoch unter ausdrücklichen Nachklagevorbehalt lediglich die Überzeitentschädigung für das Jahr 2016 im Umfang von Fr. 14’981.25 eingeklagte, für den Arbeitgeber möglich sein muss, mittels negativer Feststellungswiderklage auch die Überzeitentschädigung aus den Jahren 2014 und 2015 im selben Verfahren zur Beurteilung zu bringen. Diese Frage, welche in der Praxis grosse Auswirkungen haben kann, wurde vom Bundesgericht bejaht.

Gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO kann die beklagte Partei in der Klageantwort Widerklage erheben, wenn der geltend gemachte Anspruch nach der gleichen Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen ist. Mithin ist es grundsätzlich nicht zulässig, im vereinfachten Verfahren eine Widerklage zu erheben, die aufgrund ihres Streitwerts von über Fr. 30’000.– (vgl. Art. 243 Abs. 1 ZPO) in den Geltungsbereich des ordentlichen Verfahrens fällt.

Bundesgericht entschied aber in BGE 143 III 506, dass das Gesagte nicht gelte, wenn die beklagte Partei „als Reaktion auf eine echte Teilklage“ eine negative Feststellungswiderklage erhebe, auch wenn deren Streitwert die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge habe.

Das Bundesgericht hatte somit die Ausnahme von Art. 224 Abs. 1 ZPO gemäss dem Wortlaut des Entscheides auf echte Teilklagen beschränkt. Die Kriterien zur Abgrenzung der echten von der unechten Teilklage sind aber nicht präzise definiert.

Das Bundesgericht hielt im Urteil 4A_29/2019 vom 10. Juli 2019 nun fest, dass die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO nicht auf den Fall der echten Teilklage beschränkt sei, sondern allgemein dann gelte, wenn die Teilklage (ob echte oder unechte) eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, im Sinne von Art. 88 ZPO die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen. Somit erachtete das Bundesgericht im zu beurteilenden Fall die negative Feststellungswiderklage auch bei einer unechter Teilklage als zulässig.

Hier die wesentlichen Erwägungen des Bundesgerichts (E.2.3.):

Im Nachgang zu BGE 143 III 506 wurde in der Literatur kritisch angemerkt, dass das Bundesgericht die Ausnahme von Art. 224 Abs. 1 ZPO zwar auf echte Teilklagen beschränke, sich aber nicht dazu äussere, nach welchen Kriterien solche von unechten Teilklagen zu unterscheiden seien (so etwa BOOG, Echte Teilklage im vereinfachten Verfahren und negative Feststellungswiderklage […], 2018, S. 73 Rz. 123; WAGNER/SCHMID, Die Teilklage [im vereinfachten Verfahren] kommt nicht zur Ruhe, in: HAVE 2018 S. 177 f.; je mit weiteren Hinweisen; vgl. auch RHINER/WOHLGEMUTH, AJP 2018 S. 113).  

Im Verfahren, das zum genannten Entscheid geführt hat, verlangte der Kläger, die Beklagte sei zu verurteilen, ihm „vom zwischen dem 1. Juli 2003 und dem 31. Dezember 2012 entstandenen Direktschaden aus Erwerb, Haushalt, Kosten und Genugtuung“ Fr. 30’000.– nebst Zins zu bezahlen. Mit anderen Worten forderte er einen betragsmässig beschränkten Teil seines gesamten aus einer Körperverletzung resultierenden Schadens. Das Bundesgericht ging ausdrücklich davon aus, dass es sich dabei um eine sogenannte echte Teilklage handle (E. 4.1). In BGE 143 III 254, auf den es in diesem Zusammenhang verwies, hatte das Bundesgericht nämlich zur Unterscheidung zwischen echter und unechter Teilklage ausgeführt, mit der echten Teilklage werde nach der Lehre „ein quantitativer Teilbetrag aus dem gesamten Anspruch“ eingeklagt, wogegen die klagende Partei bei der unechten Teilklage „einen individualisierbaren Anspruch des Gesamtbetrages“ beanspruche (E. 3.4). Die Abgrenzung zwischen echter und unechter Teilklage wurde dort allerdings nicht mit Blick auf eine negative Feststellungswiderklage erwähnt, sondern hinsichtlich der Frage der Bestimmtheit des klägerischen Rechtsbegehrens. Zu beachten ist, dass das Bundesgericht seither auf das in BGE 142 III 683 formulierte Erfordernis verzichtet hat, dass immer, wenn mehrere Ansprüche in einer Klage gehäuft werden, davon aber bloss ein Teil eingeklagt wird, in der Klage zu präzisieren ist, in welcher Reihenfolge und/oder in welchem Umfang die einzelnen Ansprüche geltend gemacht werden. Es wird lediglich noch verlangt, dass die klagende Partei hinreichend substanziiert behauptet, es bestehe eine den eingeklagten Betrag übersteigende Forderung (BGE 144 III 452 E. 2.4; siehe seither auch Urteil 4A_342/2018 vom 21. November 2018 E. 2.3.2). 

Auch im hier interessierenden Zusammenhang, das heisst bei der Frage nach der Zulässigkeit der negativen Feststellungswiderklage, kommt der heiklen Abgrenzung von Streitgegenständen nicht die Bedeutung zu, die ihr die Vorinstanz zumisst: Wenn das Bundesgericht in BGE 143 III 506 darauf hingewiesen hat, dass es sich um eine sogenannte echte Teilklage handle, dann deshalb, weil in solchen Fällen – etwa bei einer Klage auf Bezahlung eines vom Kläger einzig betragsmässig beschränkten Teils einer Kaufpreisforderung (siehe zum Beispiel Urteil 4A_366/2017 vom 17. Mai 2018 E. 5.2) – das Interesse der beklagten Partei an der negativen Feststellungswiderklage auf der Hand liegt, zumal sie den Streitgegenstand nicht anderweitig rechtshängig machen kann (Art. 64 Abs. 1 lit. a und Art. 59 Abs. 2 lit. d ZPO). Indessen ist die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO nicht auf diesen Fall beschränkt, sondern gilt allgemein dann, wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, im Sinne von Art. 88 ZPO die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen.

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