Bundesgericht Urteil 9C_688/2019 vom 30. Juni 2020: Anspruch auf Ergänzungsleistungen ohne Lebensführungskontrolle

Im Urteil 9C_688/2019 vom 30. Juni 2020 (zur amtlichen Publikation vorgesehen) gefasste sich das Bundesgericht mit dem Anspruch auf Ergänzungsleistungen einer 1942 geborenen AHV-Rentnerin. Das Bundesgericht hält in diesem Urteil an der bisherigen Praxis fest, dass anspruchsberechtigte Personen auch dann Ergänzungsleistungen erhalten, wenn sie das Geld verschwenderisch ausgegeben haben.

Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (nachfolgend: SVA) ermittelte einen Einnahmenüberschuss, weshalb sie mit Verfügung vom 3. Dezember 2016 einen Anspruch verneinte. Am 12. April 2017 trat die Frau in ein Altersheim ein. Mit Verfügung vom 30. Mai 2017 sprach ihr die SVA eine Ergänzungsleistung von monatlich CHF 523.– ab 1. April 2017 zu. Mit einer weiteren Verfügung vom 12. Juli 2017 hob sie die Ergänzungsleistung auf Ende Juli 2017 auf. Mit Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2017 hielt die SVA an allen drei Verfügungen fest. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, nachdem der Rentnerin eine reformatio in peius angedroht hatte, mit Entscheid vom 21. August 2019 ab. Gleichzeitig korrigierte es den Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2017 insoweit, als es die für die Zeit vom 1. April bis zum 31. Juli 2017 gewährte Ergänzungsleistung auf monatlich CHF 489.–herabsetzte.

Die Rentnerin lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 21. August 2019 sei ihr eine Ergänzungsleistung von monatlich CHF 5105.95 ab 1. April 2017 und von monatlich CHF 5577.95 ab 1. August 2017 zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen. Ausserdem sei ihr für das Einspracheverfahren ihr Rechtsvertreter als unentgeltlicher Rechtsbeistand beizugeben. Für das Verfahren vor Bundesgericht ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. Die SVA und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das kantonale Gericht hat festgestellt, die Versicherte habe ihren Kindern von Januar 2007 bis Ende Dezember 2014 monatlich CHF 800.- und von Januar 2015 bis Ende Juli 2016 monatlich CHF 300.-, insgesamt also CHF 82’500.- geschenkt. Ihr Vermögen habe sich vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2016 um CHF 421’658.- auf CHF 46’940.- vermindert. Sie habe, obwohl die Rente nicht existenzsichernd gewesen sei, während dieser Zeit u.a. in einer teuren Wohnung gelebt und hohe Beträge für Luxusprodukte ausgegeben. Unter Berücksichtigung des ergänzungsleistungsspezifischen Existenzbedarfs (CHF 145’798.– für die Jahre 2014-2016) und der Altersrente (jährlich CHF 28’200.–) habe der notwendige Vermögensverzehr für die Jahre 2014-2016 insgesamt lediglich CHF 61’198.- ausgemacht. Vom Differenzbetrag (CHF 360’460.-) verblieben nach Abzug der auf den gleichen Zeitraum entfallenden Schenkungen an die Kinder (CHF 15’300.–) und einer Zahlung zur Begleichung von Kontokorrent-Schulden (CHF 19’330.–) weitere für den Existenzbedarf nicht notwendige Auslagen im Betrag von CHF 325’830.–. (E.2.4.1.).

Die Vorinstanz hat sowohl die Schenkungen an die Kinder (CHF 82’500.–) als auch die weiteren nicht existenznotwendigen Auslagen (CHF 325’830.–) als Verzichtsvermögen betrachtet. Den Gesamtbetrag von CHF 408’330.– hat sie – erstmals auf den 1. Januar 2009 – jährlich um CHF 10’000.– reduziert, weshalb sie für das Jahr 2017 unter dem Titel von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG CHF 318’330.– berücksichtigt hat. (2.4.2.).

Diese vorinstanzlichen Feststellungen werden nicht angefochten und bleiben für das Bundesgericht verbindlich (E. 1). Unbestritten ist auch, dass die Schenkungen Verzichtsvermögen darstellen, das im Rahmen von Art. 17a ELV anrechenbar ist. Näher zu betrachten ist aber durch das Bundesgericht die Qualifikation der weiteren nicht existenznotwendigen Auslagen (CHF 325’830.–). Das Bundesgericht fuhr fort: «Das kantonale Gericht ist – wie zuvor die Verwaltung – implizit davon ausgegangen, dass die Versicherte dafür (zumindest teilweise; vgl. nachfolgende E. 2.7) adäquate Gegenleistungen erhalten habe. Es ist der Auffassung, die stetige Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach in entsprechendem Umfang der Verzichtstatbestand nicht erfüllt ist (vgl. obenstehende E. 2.3.1), sei zu ändern. Zur Begründung führt es im Wesentlichen an, der durch einen verschwenderischen Lebensstil und deshalb selbstverschuldet herbeigeführte Armutsschaden könne nicht im Rahmen einer (Sozial-) Versicherungsleistung gedeckt werden. Würden dennoch Ergänzungsleistungen ausgerichtet, so wiesen diese nicht die wesensmässigen Charakteristika der Sozialversicherung, sondern der Sozialhilfe auf, wofür dem Bund aber keine Regelungskompetenz zukomme. Eine Vermögensverschwendung lasse die anschliessende Geltendmachung von Ergänzungsleistungen als rechtsmissbräuchlich erscheinen. Die Folgen eines entsprechenden Lebenswandels dürften nicht auf die Allgemeinheit überwälzt werden; bei der Anwendung des Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG gehe es nicht darum, einer bestimmten Lebensführung einen „moralischen Stempel“ aufzudrücken, sondern die vorwerfbare Schadensherbeiführung von der Versicherungsdeckung auszunehmen. Dies entspreche auch der Auffassung des Gesetzgebers: Die von den Eidg. Räten am 22. März 2019 beschlossene (noch nicht in Kraft getretene) EL-Reform (BBl 2019 2603) sehe im neuen Art. 11a Abs. 3 ELG u.a. vor, dass ein Vermögensverzicht anzunehmen ist, wenn ab der Entstehung des Anspruchs auf eine Hinterlassenenrente der AHV beziehungsweise auf eine Rente der IV pro Jahr mehr als 10 Prozent des Vermögens verbraucht wurden, ohne dass ein wichtiger Grund dafür vorliegt. Dahinter könne nur der Gedanke stecken, dass die genannten systematischen und teleologischen Aspekte zu einer Korrektur der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG zwängen.» (E.2.5.)

Zum Thema Praxisänderung machte das Bundesgericht die folgenden allgemeinen Aussagen: «Eine Praxisänderung muss sich auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die – vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit – umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung als zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis des Gesetzeszwecks, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht. Einen ernsthaften sachlichen Grund für eine Praxisänderung kann unter anderem die genauere oder vollständigere Kenntnis des gesetzgeberischen Willens darstellen (BGE 141 II 297 E. 5.5.1 S. 303 mit Hinweisen).» (E.2.6.1.).

Das Bundesgericht fuhr dann fallbezogen fort: «Nach der Praxis des Bundesgerichts kann auch selbstverschuldete Bedürftigkeit einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen begründen. Auch wenn diesen deswegen ein gewisser sozialhilferechtlicher Charakter beigemessen wird, werden sie dadurch weder rechtlich noch „faktisch“ von Sozialversicherungs- zu Sozialhilfeleistungen. Die Beschwerdeführerin bringt zu Recht vor, dass Ergänzungsleistungen stets an den Bezug einer Alters-, Hinterlassenen- oder Invalidenrente und damit an den Eintritt eines versicherten Risikos anknüpfen. Daran ändert nichts, dass Ergänzungsleistungen aus Steuern (vgl. Art. 13 f. ELG) und nicht aus Versicherungsbeiträgen finanziert werden. In der Rechtsprechung wurde für den Vermögensverzicht stets auf die beiden Kriterien Rechtspflicht oder adäquate Gegenleistung abgestellt, und zwar ausdrücklich auch in Konstellationen, in denen jemand vor der Anmeldung zum Leistungsbezug über seine Verhältnisse gelebt hatte (vgl. z.B. BGE 121 V 204 E. 4b S. 206). Zwar wird insbesondere dann, wenn ein Kapitalbezug aus der 2. Säule (mit-) betroffen ist (wofür in concreto keine Anhaltspunkte vorliegen), zunehmend als stossend empfunden, dass ein verschwenderischer Vermögensverzehr bei der Ergänzungsleistungsbemessung nicht sanktioniert wird (Botschaft vom 16. September 2016 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [EL-Reform], BBL 2016 7495 ff. Ziff. 1.2.2; vgl. auch JÖHL/USINGER-EGGER, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 1887 Rz. 203). Dieser Umstand allein genügt jedoch unter dem Aspekt der Rechtssicherheit nicht für eine Änderung der Rechtsprechung. Das Vorgehen der Vorinstanz in Anlehnung an den neuen, noch nicht in Kraft stehenden Art. 11a ELG (vgl. obenstehende E. 2.5) zu schützen, käme einer unzulässigen positiven Vorwirkung gleich (vgl. BGE 129 V 455 E. 3 S. 459 mit Hinweisen; Urteil 8C_21/2018 vom 25. Juni 2018 E. 6).» (E.2.6.2.).

Das Bundesgericht kommt dann im Urteil 9C_688/2019 vom 30. Juni 2020 zum folgenden Schluss: «Nach dem Gesagten können die weiteren nicht existenznotwendigen Auslagen (Fr. 325’830.-) nicht ohne Weiteres als Verzichtsvermögen betrachtet werden.  Das kantonale Gericht hat (verbindlich; E. 1) festgestellt, dass diese Auslagen – nebst „hohen Beträgen“ für Luxusprodukte – die Differenz zwischen dem anerkannten und dem tatsächlichen Wohnungsmietzins (Fr. 14’400.- pro Jahr) und die Kosten einer Zusatzversicherung zur obligatorischen Krankenversicherung enthalten, nicht aber die gegenüber der Steuerbehörde für die Jahre 2014-2016 deklarierten (und bereits beim Existenzbedarf berücksichtigten) Krankheits- und Behinderungskosten von Fr. 21’018.- sowie (mangels Belegen) von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Ausgaben für die Spitex. Indessen lässt sich weder dem angefochtenen Gerichtsentscheid noch dem Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2017 eine weitergehende Feststellung betreffend ausserordentliche Abnahme des Vermögens und die einer solchen gegenüberstehenden Gegenleistungen (wie Luxusprodukte und Dienstleistungen) resp. Rechtspflichten (wie Steuern) entnehmen (vgl. obenstehende E. 2.3.2). Die Sache ist zur diesbezüglichen Sachverhaltsfeststellung und neuem Entscheid über den Ergänzungsleistungsanspruch an die Verwaltung zurückzuweisen, wodurch der Beschwerdeführerin der Instanzenzug gewahrt wird. Insoweit ist die Beschwerde begründet.» (E.2.7.).

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