Bezug von Ergänzungsleistungen ist kein Widerrufsgrund für eine Niederlassungsbewilligung

Einem ausländischen Staatsangehörigen, der vor seiner Frühpensionierung Sozialhilfe bezog, wurde die Niederlassungsbewilligung widerrufen, weil er Ergänzungsleistungen erhält. Das Bundesgericht heisst im Urteil 2C_60/2022 27. Dezember 2022 die Beschwerde des Betroffenen gut. Da im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils keine Sozialhilfeabhängigkeit mehr bestand und der Bezug von Ergänzungsleistungen kein Widerrufsgrund ist, bleibt die Niederlassungsbewilligung bestehen.

Ein ausländischer Staatsangehöriger, welcher seit Ende 1993 über eine Niederlassungsbewilligung verfügt, erhält seit dem 1. April 2021 infolge Frühpensionierung eine AHV-Rente und Ergänzungsleistungen. Davor bezog er während einiger Jahre Sozialhilfe.

Am 8. April 2020 entzog ihm die Abteilung Migration des Kantons Appenzell Ausserrhoden die Niederlassungsbewilligung. Die gegen diese Verfügung beim Departement Inneres und Sicherheit und beim Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden erhobenen Rechtsmittel wurden abgewiesen. Mit Beschwerde gelangte der ausländische Staatsangehörige an das Bundesgericht.

Das Bundesgericht heisst im Urteil 2C_60/2022 vom 27. Dezember 2022 die Beschwerde gut und hebt das Ende November 2021 ergangene vorinstanzliche Urteil auf. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss, im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils, die konkrete Gefahr der Sozialhilfeabhängigkeit noch andauern. Zu diesem Zeitpunkt bezog der Beschwerdeführer jedoch keine Sozialhilfe mehr, sondern seit rund acht Monaten eine AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen. Der Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit im Sinne von Artikel 63 Absatz 1 Buchstabe c Ausländer- und Integrationsgesetz (AlG) bestand demnach zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils nicht mehr.

Gemäss gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung fallen Ergänzungsleistungen nicht unter den Begriff der Sozialhilfe, auch wenn gewisse Ähnlichkeiten bestehen. Ausserdem hat der Gesetzgeber den Bezug von Ergänzungsleistungen gerade nicht als Widerrufsgrund eingeführt. Folglich lag im konkreten Fall im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils kein Widerrufsgrund vor, die Niederlassungsbewilligung kann nicht entzogen werden und bleibt somit bestehen.

Hier sind die Schlüsselausführungen aus dem Urteil 2C_60/2022 vom 27. Dezember 2022:

Gemäss gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung fallen Ergänzungsleistungen zur AHV/IV nicht unter den Begriff der Sozialhilfe. An diesem vom Gesetzgeber bereits unter dem ANAG (Bundesgesetz vom 26. Mai 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer) getroffenen Entscheid wurde auch im Rahmen des AuG respektive des AIG (Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration; SR 142.20) festgehalten (vgl. dazu ausführlich Urteil 2C_448/2007 vom 20. Februar 2008 E. 3.4 f. betreffend ANAG und AuG; BGE 141 II 401 E. 5.1, in: Pra 2016 Nr. 59 S. 563 ff.; 135 II 265 E. 3.7; statt vieler Urteile 2C_309/2021 vom 5. Oktober 2021 E. 5.1; 2C_562/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.1). Der Gesetzgeber unterscheidet denn auch in Art. 43 Abs. 1 lit. c und e und Art. 44 Abs. 1 lit. c und e AIG zwischen Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen (vgl. dazu weiter unten). Zwar bestehen zwischen Ergänzungsleistungen zur AHV/IV und der Sozialhilfe gewisse Ähnlichkeiten, da beide Leistungen die Bedürftigkeit des Ansprechers voraussetzen und die öffentliche Hand belasten. Die Sozialhilfe ist jedoch gegenüber den Ergänzungsleistungen subsidiärer Natur und dient der Überbrückung von Notlagen, während Letztere ein längere Zeit fliessendes Ergänzungs- oder Mindesteinkommen darstellen (BGE 141 II 401 E. 5.1 und E. 6.2.4, in: Pra 2016 Nr. 59 S. 563 ff.; Urteil 2C_309/2021 vom 5. Oktober 2021 E. 5.1).

«Der Gesetzgeber hat zwar das vorgenannte Urteil 2C_448/2007 vom 20. Februar 2008 zum Anlass genommen, den aktuellen oder drohenden Bezug von Ergänzungsleistungen mit Geltung ab 1. Januar 2019 als zusätzlichen Hinderungsgrund für den Familiennachzug einzuführen (vgl. Art. 43 Abs. 1 lit. e sowie Art. 44 Abs. 1 lit. e AIG; AS 2017 6521, AS 2018 3171). Ebenso steht der Bezug von Ergänzungsleistungen einem Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit gemäss Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA entgegen (BGE 135 II 265 E. 3.7; Urteile 2C_168/2021 vom 23. November 2021 E. 4.3.3; 2C_914/2020 vom 11. März 2021 E. 5.10). Ausserdem wurde auf den gleichen Zeitpunkt Art. 63 Abs. 2 AuG (wonach die Niederlassungsbewilligung von ausländischen Personen, welche sich seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz aufhalten, nicht wegen dauerhafter und erheblicher Sozialhilfeabhängigkeit widerrufen werden kann), gestrichen (vgl. AS 2007 5437 ff., 5455 f., AS 2017 6521, AS 2018 3171). Der Gesetzgeber hat jedoch, wie sich aus der entsprechenden bundesrätlichen Botschaft ergibt, gerade keinen Widerrufsgrund des Bezugs von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV eingeführt, sondern den (möglichen) Bezug von bundesrechtlichen Ergänzungsleistungen (lediglich) beim Familiennachzug sanktioniert (vgl. oben). Es ging ausdrücklich darum, auch bei ausländischen Personen mit langjähriger Anwesenheit den Widerruf der Niederlassungsbewilligung wegen (dauerhafter und erheblicher) Sozialhilfeabhängigkeit zu ermöglichen bzw. diesbezüglich mehr Handlungsspielraum für die Behörden zu schaffen. Dieser Handlungsspielraum wurde jedoch gerade nicht auf den (möglichen) Bezug von Ergänzungsleistungen ausgedehnt (vgl. bundesrätliche Zusatzbotschaft zur Änderung des Ausländergesetzes (Integration) vom 4. März 2016, BBl 2016 2821 ff., 2827 ff., 2837, 2840 ff.; Umsetzung der parlamentarischen Initiativen von Philipp Müller, Nr. 08.428 [Kein Familiennachzug bei Bezug von Ergänzungsleistungen], und Nr. 08.450 [Mehr Handlungsspielraum für die Behörden; die Niederlassungsbewilligung soll bei einer dauerhaften und erheblichen Sozialhilfeabhgängigkeit auch nach einem Aufenthalt von mehr als 15 Jahren widerrufen werden können]). Der Bezug von Ergänzungsleistungen stellt somit keinen Widerrufsgrund im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG dar (vgl. BGE 141 II 401 E. 6.2.3; 135 II 265 E. 3.7; Urteile 2C_158/2021 vom 3. Dezember 2021 E. 6.2.2; 2C_98/2018 vom 7. November 2018 E. 4.4; 2C_1018/2016 vom 22. Mai 2017 E. 3.1; 2C_562/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.1).» (E.4.5).

«Allerdings entfällt der zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils bestehende Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit nicht, wenn die betroffene Person zukünftig infolge Pensionierung oder Frühpensionierung eine AHV-Rente beziehen und aufgrund der geringen Rente auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein wird. Die betroffene Person, welche zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils den Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit erfüllt, kann sich mit anderen Worten nicht darauf berufen, dass sie in Zukunft pensioniert (bzw. frühpensioniert) wird und der Sozialhilfebezug dannzumal durch Ergänzungsleistungen abgelöst werden wird (dazu auch E. 4.7 nachfolgend). Die künftigen Ergänzungsleistungen belasten nämlich die öffentlichen Finanzen, was bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit des Widerrufs zu berücksichtigen ist (Urteile 2C_158/2021 vom 3. Dezember 2021 E. 6.2.2; 2C_83/2018 vom 1. Februar 2019 E. 4.2.4; 2C_98/2018 vom 7. November 2018 E. 4.4; 2C_562/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 3.1.2).» (E.4.6).

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