Ausschreibung von Landesverweisung im Schengener Informationssystem

Im Urteil 6B_1178/2019 vom 10. März 2021 hatte sich das Bundesgericht mit der Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) zu befassen. Damit die Landesverweisung eines verurteilten Straftäters im SIS ausgeschrieben werden kann, muss kein schweres oder besonders schweres Delikt vorliegen. Entscheidend ist zudem nicht das Strafmass, sondern in erster Linie Art und Häufigkeit der Straftaten, die konkreten Tatumstände sowie das übrige Verhalten der Person.

Das Bundesgericht weist im Urteil 6B_1178/2019 vom 10. März 2021 die Beschwerde eines Straftäters gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau ab.

Vorinstanzliches Verfahren

Das Aargauer Obergericht hatte 2019 den Schuldspruch gegen einen aus der Türkei stammenden Mann wegen Schändung bestätigt. Es verurteilte ihn dafür sowie für den von ihm nicht angefochtenen Schuldspruch wegen eines Betäubungsmitteldelikts zu einer bedingten Geldstrafe von 270 Tagessätzen und einer Busse. Zudem ordnete es eine Landesverweisung von fünf Jahren und deren Ausschreibung im SIS an.

Zusammenfassung der Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1178/2019 vom 10. März 2021

Das Bundesgericht weist die vom Betroffenen erhobene Beschwerde ab. Es bestätigt zunächst den Schuldspruch wegen Schändung sowie die Landesverweisung als solche. Gegen die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS hatte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vorgebracht, dass diese unverhältnismässig sei. Sie bewirke, dass er seine Zukunft nur in der Türkei, nicht jedoch in Europa ausserhalb der Schweiz aufbauen könne. Eine Ausschreibung im SIS setzt gemäss der SIS-II-Verordnung (EG-Verordnung Nr. 1987/2006) unter anderem eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auf Grundlage einer individuellen Bewertung voraus; das ist insbesondere der Fall, wenn die betroffene Person in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist. Diese Voraussetzungen werden von den schweizerischen Gerichten nicht einheitlich ausgelegt.

Das Bundesgericht kommt unter anderem gestützt auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Schluss, dass für die Annahme einer „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind. Insbesondere ist nicht erforderlich, dass von der betroffenen Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung ausgehen würde, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die Annahme einer „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ setzt damit bei verurteilten Straftätern nicht zwingend ein schweres oder besonders schweres Delikt voraus. Es genügt, wenn die betroffene Person wegen einer oder mehrerer Straftaten verurteilt wurde, welche die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden und die einzeln oder gemeinsam betrachtet von einer gewissen Schwere sind. Ausgenommen sind Bagatelldelikte. Entscheidend ist zudem nicht das Strafmass, sondern in erster Linie Art und Häufigkeit der Straftaten, die Tatumstände sowie das übrige Verhalten der Person. Auch eine bloss bedingt ausgesprochene Strafe steht daher einer Ausschreibung im SIS nicht entgegen. Die weitere Voraussetzung („Verurteilung zu einer Straftat, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist“) ist sodann erfüllt, wenn für die begangene Straftat im Gesetz eine Freiheitsstrafe im Höchstmass von einem Jahr oder mehr vorgesehen ist.

Im konkreten Fall ist die Ausschreibung im SIS gemäss dem Bundesgericht als bundesrechtskonform zu beurteilen. Die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit im gesamten Schengenraum hat der Betroffene in Kauf zu nehmen. Diese gilt im Übrigen nicht absolut, da die Mitgliedstaaten die Einreise im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Gründe dennoch bewilligen können.

Hier sind die wichtigsten Ausführungen des Bundesgerichts:

«Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung kann entgegen der Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Zürich und des Kantonsgerichts Basel-Landschaft (oben E. 4.4.3 und 4.4.4) nicht im Sinne einer effektiven Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr oder einer abstrakten Mindeststrafandrohung von einem Jahr Freiheitsstrafe verstanden werden. Ersteres widerspricht bereits dem klaren Wortlaut der Bestimmung, der auf die abstrakte Strafandrohung abstellt („mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist“). Dass die erwähnte Bestimmung im Sinne einer Mindeststrafandrohung zu verstehen ist, kann ebenfalls ausgeschlossen werden. Eine solche Regelung macht wenig Sinn, da damit je nach Ausgestaltung der nationalen Straftatbestände willkürlich schwere Straftaten vom Anwendungsbereich der Bestimmung ausgeschlossen würden. Weiter ist davon auszugehen, dass der EG-Gesetzgeber für eine solche Regelung eine klare Formulierung gewählt hätte. Hätte er für die Ausschreibung im SIS eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr voraussetzen wollen, hätte er naheliegenderweise auf die konkrete Strafe abgestellt.

Entscheidend ist daher vielmehr, ob die Straftat im Höchstmass mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr bedroht ist (gl. M. für die insoweit identische Bestimmung von Art. 96 Abs. 2 lit. a SDÜ: EGLI/MEYER, in: Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Caroni/Gächter/Thurnherr [Hrsg.], 2010, FN 76 zu Art. 5 AuG mit Hinweis auf die deutsche Lehre). Eine solche Auslegung von Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung steht nicht nur im Einklang mit dem Wortlaut der Bestimmung, sondern entspricht auch den Materialien (vgl. Änderungsvorschlag Manfred Weber zum Entwurf des Vorschlags des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments vom 31. März 2006, PE 372.149v02-00 S. 26, siehe dazu auch hinten E. 4.7.2), der Regelung im Auslieferungsrecht (vgl. insb. Art. 59 ff. SDÜ und Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten [nachfolgend: Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl; ABl. L 190 vom 18. Juli 2002 S. 1]) und der langjährigen Praxis des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung.» (E.4.6).

Schlüsselzitate des Urteils 6B_1178/2019 vom 10. März 2021

Das gesamte Urteil des Bundesgerichts 6B_1178/2019 vom 10. März 2021 ist sehr lesenswert. Nachfolgend werden noch einige Ausführungen besonders hervorgehoben.

Hier sind die wichtigsten Ausführungen des Bundesgerichts: «Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung weder eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr voraussetzt, noch einen Schuldspruch wegen einer Straftat, die mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bedroht ist. Die Voraussetzung von Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung ist vielmehr erfüllt, wenn der entsprechende Straftatbestand eine Freiheitsstrafe im Höchstmass von einem Jahr oder mehr vorsieht. Indes ist im Sinne einer kumulativen Voraussetzung stets zu prüfen, ob von der betroffenen Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Damit wird dem in Art. 21 SIS-II-Verordnung verankerten Verhältnismässigkeitsprinzip Rechnung getragen. An die Annahme einer solchen Gefahr sind jedoch keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Nicht verlangt wird, dass das „individuelle Verhalten der betroffenen Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“ (oben E. 4.5 und 4.7.2). Dass bei der Legalprognose eine konkrete Rückfallgefahr verneint und die Strafe bedingt ausgesprochen wurde, steht einer Ausschreibung der Landesverweisung im SIS daher nicht entgegen (vgl. Urteil 6B_739/2020 vom 14. Oktober 2020 E. 2.2). Ebenso wenig setzt Art. 24 Ziff. 2 SIS-II-Verordnung die Verurteilung zu einer „schweren“ Straftat voraus, sondern es genügen eine oder mehrere Straftaten, die einzeln betrachtet oder in ihrer Gesamtheit von einer „gewissen“ Schwere sind, unter Ausschluss von blossen Bagatelldelikten. Entscheidend ist zudem nicht das Strafmass, sondern in erster Linie die Art und Häufigkeit der Straftaten, die konkreten Tatumstände sowie das übrige Verhalten der betroffenen Person.  

Schliesslich dürfen nur Einreiseverbote im SIS ausgeschrieben werden, die in Beachtung der nationalen Verfahrensregeln und auf der Grundlage einer individuellen Bewertung ergingen (Art. 24 Ziff. 1 SIS-II-Verordnung). Art. 24 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EU) 2018/1861 stellt klar, dass diese individuelle Bewertung eine Bewertung der persönlichen Umstände des betreffenden Drittstaatsangehörigen und der Auswirkungen der Einreise- und Aufenthaltsverweigerung für den betreffenden Drittstaatsangehörigen umfassen muss. Damit soll sichergestellt werden, dass nur grundrechtskonforme Einreiseverbote Eingang ins SIS finden.» (E.4.8).

Weiter führt das Bundesgericht aus: «Spricht das Berufungsgericht gegenüber einem Drittstaatsangehörigen eine Landesverweisung aus, muss es auch über die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS entscheiden (BGE 146 IV 172 E. 3.3.5 S. 183). Vorliegend hat der Beschwerdeführer die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS im vorinstanzlichen Verfahren zudem insofern angefochten, als er die vollumfängliche Aufhebung von Dispositiv-Ziff. 7 des erstinstanzlichen Urteils verlangte, welche nebst der Landesverweisung auch die Ausschreibung im SIS anordnete. Die Vorinstanz befand im angefochtenen Entscheid daher zu Recht auch über die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS.» (E.4.11.1).

 

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