Sachverhalt
Das Migrationsamt des Kantons Zürich verweigerte einem straffällig gewordenen irakischen Staatsangehörigen 2018 die Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung. Das Zürcher Verwaltungsgericht hiess die Beschwerde des Betroffenen gut und wies das Migrationsamt an, die Aufenthaltsbewilligung zu verlängern. Das SEM verweigerte der Bewilligungsverlängerung in Anwendung von Artikel 99 Absatz 2 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) seine Zustimmung und wies den Mann aus der Schweiz weg. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diesen Entscheid.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 2C_681/2023 vom 19. März 2025
Das Bundesgericht weist im Urteil 2C_681/2023 vom 19. März 2025 die Beschwerde des Mannes zwar ebenfalls ab. Es kommt jedoch zum Schluss, dass Artikel 99 Absatz 2 AIG teilweise verfassungswidrig ist. Die fragliche Bestimmung räumt dem SEM die Kompetenz ein, kantonalen Entscheiden über die Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen die Zustimmung zu verweigern. Soweit wie im konkreten Fall ein kantonales Gericht die Erteilung einer entsprechenden Bewilligung angeordnet hat, erweist sich die Übersteuerung dieses Entscheides durch das SEM im Zustimmungsverfahren als Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung beziehungsweise des Gebots der richterlichen Unabhängigkeit. Aus dem Gewaltenteilungsprinzip ergibt sich unter anderem, dass Verwaltungsbehörden an rechtskräftige Gerichtsentscheide gebunden sind. Eine Ausnahme kann gelten, wenn sich eine Befugnis zur Übersteuerung eines Gerichtsentscheides direkt aus dem Verfassungsrecht ergibt. Dem SEM steht es unabhängig vom Zustimmungsverfahren offen, kantonale Gerichtsentscheide über ausländerrechtliche Bewilligungen (auf die ein Anspruch besteht), mit Beschwerde beim Bundesgericht anzufechten. Diese Möglichkeit hat das SEM primär zu nutzen, wenn es mit einem kantonalen Entscheid nicht einverstanden ist. Es verfügt damit über ein hinreichend wirksames Instrument, um bundesstaatliche Anliegen einzubringen. Gemäss Bundesverfassung muss das Bundesgericht Bundesgesetze auch bei festgestellter Verfassungsverletzung anwenden. Der fragliche Artikel 99 Absatz 2 AIG bleibt im vorliegenden Fall deshalb anwendbar. Der Gesetzgeber wird jedoch angehalten, die fest gestellte verfassungsrechtliche Problematik zu entschärfen.
Hier sind einige Schlüsselstellen des Urteils:
«Zu prüfen ist weiter, ob Art. 99 Abs. 2 AIG gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz bzw. das Gebot der richterlichen Unabhängigkeit verstösst.» (E.4.9).
«Das Bundesgericht anerkennt das Gewaltenteilungsprinzip seit jeher als verfassungsmässiges Recht (vgl. BGE 147 I 478 E. 3.1.1; 138 I 378 E. 7.1; 130 I 1 E. 3.1). Als solches verschafft es dem Einzelnen einen Anspruch auf Einhaltung der verfassungsmässigen Zuständigkeitsordnung. Mit dieser Ordnung ist die auf Verfassungsebene vorgenommene Abgrenzung der Aufgaben von Legislative, Exekutive und Judikative gemeint. Der Inhalt des Gewaltenteilungsprinzips ergibt sich in erster Linie aus dem jeweiligen kantonalen Recht (BGE 147 I 478 E. 3.1.1 mit Hinweisen), kann aber auch durch bundesrechtliche Vorgaben beeinflusst sein (vgl. BGE 131 I 291 E. 2). Gewaltenteilung bedeutet u.a., dass Bestimmungen, die in einem Gesetz stehen müssen, grundsätzlich nicht durch die Regierung erlassen werden dürfen (vgl. BGE 150 I 39 E. 5.2; 147 I 478 E. 3.1.1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 138 I 378 E. 7.1). Auf Bundesebene ist dieser Teilgehalt des Gewaltenteilungsprinzips in den Art. 164 und 182 BV verankert (vgl. dazu BGE 139 II 460). Die Gewaltenteilung betrifft aber genauso das Verhältnis zwischen den Parlamenten und den Gerichten (vgl. BGE 147 I 1 E. 3.3.3) sowie zwischen den Gerichten und der Exekutive (vgl. Urteil 1C_445/2022 vom 10. Juni 2024 E. 4.1).» (E.4.9.1).
«Im Verbund mit dem in Art. 30 Abs. 1 BV grundrechtlich verbürgten und durch Art. 191c BV flankierten Anspruch auf institutionelle Unabhängigkeit sämtlicher Justizbehörden – insbesondere gegenüber Regierung und Verwaltung – ergibt sich aus dem Gewaltenteilungsprinzip, dass die Verwaltungsbehörden aller Stufen an rechtskräftige Gerichtsurteile gebunden sind, d.h. die entsprechenden Erkenntnisse nicht aufheben bzw. durch abweichende Verfügungen ersetzen oder sonstwie übersteuern dürfen, es sei denn, eine solche Befugnis ergebe sich direkt aus dem Verfassungsrecht (vgl. zum Anspruch auf institutionelle Unabhängigkeit der Justiz BGE 142 III 732 E. 3.3; 139 III 98 E. 4.2; Urteil 1C_339/2016 vom 7. November 2016 E. 4; KIENER / RÜTSCHE / KUHN, a.a.O., N. 261; WIEDERKEHR / PLÜSS, Praxis des öffentlichen Verfahrensrechts, 2020, N. 1010 ff.). Ein Gerichtsurteil kann einzig durch ein Gericht abgeändert werden (REGINA KIENER, in: Staatsrecht, 3. Aufl. 2021, § 21 N. 15; ANOUK NEUENSCHWANDER, in: Commentaire romand, 2021, N. 16 zu Art. 191c BV; vgl. ferner SCHINDLER / SCHULER / WYSS, in: St. Galler Kommentar zur schweizerischen Bundesverfassung, 4. Aufl. 2023, N. 12 zu Art. 191c BV) und die Aufsicht über die Justiz muss sich auf administrative Belange beschränken (KIENER, a.a.O., § 21 N. 16; vgl. auch GIOVANNI BIAGGINI, Kommentar BV, 2. Aufl. 2017, N. 5 zu Art. 191c BV; REICH, a.a.O., N. 19 zu Art. 191c BV). Diese Grundsätze gelten auch im Verhältnis zwischen Bund und Kantonen. So kann der Bund ein kantonales Gerichtsurteil grundsätzlich nicht im Rahmen der Bundesaufsicht aufheben (vgl. insbesondere YVO HANGARTNER, Bundesaufsicht und richterliche Unabhängigkeit, in: ZBl 1975, S. 6 ff. und 12 ff. mit Hinweisen u.a. auf JEAN-FRANÇOIS AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Bd. I, 1967, S. 298 und ZACCARIA GIACOMETTI, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichtes, 1933, S. 19; vgl. überdies BIAGGINI, a.a.O., N. 25 zu Art. 49 BV; HÄFELIN / HALLER / KELLER / THURNHERR, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 11. Aufl. 2024, N. 1480; JOHANNES REICH, in: Basler Kommentar, 2015, N. 16 zu Art. 191c BV; RHINOW / SCHEFER / UEBERSAX, Schweizerisches Verfassungsrecht, 3. Aufl. 2016, N. 788; a.M. KÖLZ / HÄNER / BERTSCHI, a.a.O., N. 768, JÖRG KÜNZLI, in: Basler Kommentar, 2015, N. 36 zu Art. 186 BV und PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl. 2021, N. 988, für welche die Kassation kantonaler Gerichtsurteile durch die Bundesexekutive jedoch nur als „ultima ratio“ bzw. nur bei schwersten Bundesrechtsverletzungen denkbar ist). Die aufsichtsrechtliche Kassation eines kantonalen Gerichtsurteils gestützt auf Art. 186 Abs. 4 BV ist, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen möglich. Sie scheidet jedenfalls aus, wenn der ordentliche Rechtsweg (in Form einer Behördenbeschwerde) offensteht und die prozessrechtliche Lage es erlaubt, die aufsichtsrechtliche Fragestellung zu thematisieren (TSCHANNEN, a.a.O., N. 986; vgl. ausserdem die in BGE 148 II 369 E. 3.3.1 zitierten Lehrmeinungen sowie das in VPB 2005 Nr. 1 publizierte Gutachten des Bundesamts für Justiz vom 31. August 2004, S. 33).» (E.4.9.2).
«Vorliegend steht dem SEM grundsätzlich die Behördenbeschwerde offen. Wie das Bundesgericht in BGE 141 II 169 betreffend Art. 99 AIG in seiner ursprünglichen Fassung festhielt, hat das SEM primär Beschwerde gestützt auf Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG zu führen, wenn es mit einem kantonalen Entscheid nicht einverstanden ist. Auch wenn sich dieses besondere Beschwerderecht auf Anspruchsbewilligungen bezieht (vgl. Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG) und insofern nicht alle denkbaren Konstellationen erfasst, verfügt das SEM über ein hinreichend wirksames Instrument, um bundesstaatliche Anliegen im Instanzenzug einzubringen. Bei dieser Ausgangslage verstösst Art. 99 Abs. 2 AIG insoweit gegen Art. 30 Abs. 1 BV und das Gewaltenteilungsprinzip, als er dem SEM in Abweichung von der verfassungsmässigen Zuständigkeitsordnung und trotz bestehender Möglichkeit der Anfechtung beim Bundesgericht die Befugnis einräumt, rechtskräftige Entscheide kantonaler Gerichtsinstanzen zu übersteuern. Macht das SEM von dieser Befugnis Gebrauch, wirkt sich dies wie eine Aufhebung des kantonalen Gerichtsurteils aus. Damit rückt der Bund das SEM ohne entsprechende Verfassungsgrundlage in die unmittelbare Nähe einer Fachaufsichtsbehörde über die kantonale Verwaltungsjustiz, was deren Unabhängigkeit auf unzulässige Weise beeinträchtigt.» (E.4.9.3).
«Nach dem Ausgeführten erweist sich Art. 99 Abs. 2 AIG als teilweise (bundes-) verfassungswidrig, nicht jedoch als völkerrechtswidrig. Die besagte Gesetzesnorm bleibt daher für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend (Art. 190 BV; vgl. E. 4.1 hiervor). Soweit das Bundesverwaltungsgericht zu einem anderen Schluss kam, ist ihm nicht zu folgen. Der Gesetzgeber ist jedoch im Sinn eines Appellentscheids anzuhalten, die dargelegte verfassungsrechtliche Problematik zu entschärfen. Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass der Beschwerdeführer aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts F-2182/2021 vom 6. Juni 2024 nichts für sich ableiten kann und Art. 99 Abs. 2 AIG anwendbar bleibt.» (E.4.10).