Wichtiges Urteil des Bundesgerichts vom 6. Mai 2020 (6B_186/220) zur strafrechtlichen Landesverweisung, der Prüfung von Härtefällen und Art. 8 EMRK

Im vorliegenden Urteil des Bundesgerichts vom 6. Mai 2020 (6B_186/2020) ging es um die strafrechtliche Landesverweisung eines Mannes, der 186 g reines Kokain entgegengenommen und verkauft haben soll. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte das erstinstanzliche Urteil, wogegen der Mann Beschwerde an das Bundesgericht führte und eine teilweise Aufhebung des Urteils des Obergerichts verlangte. Auch sei von der Anordnung einer Landesverweisung abzusehen.

Das Bundesgericht erläuterte zunächst die Landesverweisung bei Widerhandlungen gegen Art. 19 Abs. 2 oder Art. 20 Abs. 2 BetmG sowie die Härtefallklausel im Allgemeinen. (E.2.3.1.).

Von einem schweren persönlichen Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB ist bei einem Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auszugehen. Das Bundesgericht machte dann interessante Ausführungen zum Thema Kernfamilie, minderjährige Kinder und volljährige Kinder sowie Geschwister:
«Das durch Art. 13 BV bzw. Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser ohne Weiteres möglich bzw. zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (BGE 144 I 266 E. 3.3 S. 272, 91 E. 4.2 S. 96 und E. 5.1 S. 96 f.; 144 II 1 E. 6.1 S. 12; Urteil 6B_1070/2018 vom 14. August 2019 E. 6.3.2). Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie, d.h. die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern (BGE 145 I 227 E. 5.3 S. 233; 144 II 1 E. 6.1 S. 12; Urteil 6B_1474/2019 vom 23. März 2020 E. 1.4). Das Verhältnis zu volljährigen Kindern und zu Geschwistern fällt nur dann unter das geschützte Familienleben, wenn ein über die üblichen familiären Beziehungen bzw. emotionalen Bindungen hinausgehendes, besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht; namentlich infolge von Betreuungs- oder Pflegebedürfnissen bei körperlichen oder geistigen Behinderungen und schwerwiegenden Krankheiten (BGE 145 I 227 E. 5.3 S. 233; 144 II 1 E. 6.1 S. 12 f.; Urteil 2C_385/2018 vom 29. November 2018 E. 3.2; je mit Hinweisen). Der Anspruch auf Schutz des Privatlebens kann auch ohne Familienbezug tangiert sein, wenn ein Ausländer ausgewiesen werden soll. Aus diesem Anspruch ergibt sich ein Recht auf Verbleib im Land aber nur unter besonderen Umständen. Eine lange Anwesenheit und die damit verbundene normale Integration genügen hierzu nicht; erforderlich sind besonders intensive, über eine normale Integration hinausgehende private Beziehungen beruflicher oder gesellschaftlicher Natur (BGE 144 II 1 E. 6.1 S. 13; Urteile 6B_1314/2019 vom 9. März 2020 E. 2.3.6; 6B_1044/2019 vom 17. Februar 2020 E. 2.5.2).» (E.2.3.2.).

Das Bundesgericht betonte mithin die Bedeutung der tatsächlich gelebten familiären Beziehung, welche nicht anderenorts gepflegt werden kann. Zum geschützten Personenkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie, d.h. die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern. Das Verhältnis zu volljährigen Kindern und Geschwistern fällt nur dann unter diesen Schutz, wenn ein über die üblichen Beziehungen hinausgehendes besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht, etwa bei Pflegebedürfnissen infolge Krankheit oder Behinderung.
Das Bundesgericht erklärte im Sinne eines obiter dictums auch, dass ein Anspruch auf Achtung des Privatlebens ausnahmsweise auch ohne Familiennachzug tangiert sein kann, z.B. durch über die normale Integration hinausgehende private oder berufliche Beziehungen (E.2.3.2.).

Weiter ist gemäss dem Bundesgericht Art. 66a EMRK-konform auszulegen. Soweit ein Anspruch aus Art. 8 EMRK in Betracht fällt, ist die Rechtsprechung des EGMR zu beachten, worauf das Bundesgericht näher einging (E.2.3.3.).

Das Bundesgericht erklärte, dass der Beschwerdeführer erst im Erwachsenenalter in die Schweiz eingewandert sei. Daraus lasse sich aber noch kein für die Annahme eines Härtefalls genügendes persönliches Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in der Schweiz ableiten (E.2.4.3).

Das Bundesgericht machte die weiteren, interessanten Ausführungen zum Thema Kernfamilie, insbesondere Geschwister:
«Hinsichtlich der familiären Beziehungen des Beschwerdeführers ist sodann zu berücksichtigen, dass seine ausserhalb des ehelichen Haushalts lebende Stieftochter und zwei seiner Nachkommen bereits volljährig und damit nicht mehr zur Kernfamilie, d.h. zur Gemeinschaft der Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern, zählen (vgl. E. 2.3.2 hiervor). Letzteres gilt auch für die in der Schweiz lebenden Geschwister des Beschwerdeführers. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis, welches über eine normale affektive Bindung hinausgeht, ist hier nicht ersichtlich. Diese familiären Verhältnisse fallen damit nicht unter das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Familienleben. Die durch die Landesverweisung erfolgte Beeinträchtigung dieser familiären Beziehungen ist zwar durchaus einschneidend, vermag aber noch keinen schweren persönlichen Härtefall für den Beschwerdeführer zu begründen. Zu der Kernfamilie des Beschwerdeführers gehört jedoch der noch minderjährige 16-jährige Sohn und seine Ehefrau, die beide über ein gefestigtes Aufenthaltsrecht in der Schweiz verfügen. Der Beschwerdeführer lebt seit 1996 mit seiner Ehefrau zusammen, der noch minderjährige Sohn ist in der Schweiz geboren und im ehelichen Haushalt aufgewachsen. Letzterem ist es als Schweizer Bürger angesichts seiner in der Schweiz verbrachten Jugend und Schulzeit nicht zuzumuten, nach Algerien auszureisen. Nach den vorinstanzlichen willkürfreien Feststellungen besteht zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Ehefrau bzw. zwischen dem Beschwerdeführer und seinem minderjährigen 16-jährigen Sohn eine normale familiäre und emotionale Bindung, weshalb von einer intakten familiären Beziehung ausgegangen werden muss. Eine Landesverweisung greift in diese gelebte, durch Art. 8 EMRK geschützte Beziehung in erheblichem Mass ein. Entgegen der Vorinstanz ist damit ein schwerer persönlicher Härtefall nach Art. 66a Abs. 2 StGB (1. kumulative Voraussetzung) zu bejahen.» (E.2.4.3.).

Schliesslich folgerte das Bundesgericht in diesem wichtigen Urteil, dass sich die Landesverweisung sowohl unter dem Blickwinkel von Art. 66a Abs. 2 StGB als auch unter dem Blickwinkel von Art. 8 Ziff. 2 EMRK als verhältnismässig und rechtskonform erweise (E.2.4.3. a.E.).

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