Urteil des Bundesgerichts 5A_789/2019 vom 16. Juni 2020: KESB entscheidet über Impfung von Kindern bei Uneinigkeit der Eltern – Impfzwang nur durch Gesetzgeber

Können sich Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge nicht über die Impfung der Kinder gegen Masern einigen, muss Gemäss Urteil des Bundesgerichts 5A_789/2019 vom 16. Juni 2020 im Interesse des Kindeswohls das Gericht bzw. die Kindesschutzbehörde entscheiden. Richtschnur für den Entscheid ist dabei die Empfehlung des Bundesamtes für Gesundheit zur Durchführung der Masernimpfung. Vorbehalten bleiben allfällige Kontraindikationen für die Impfung bei den Kindern. Dieses wichtige familienrechtliche Urteil betrifft nicht nur die Masernimpfung, die im vorliegenden Fall zur Diskussion stand, sondern alle Impfungen. Die Schlussfolgerungen des Bundesgerichts wären auch bei einer allenfalls eines Tages verfügbaren COVID-19-Impfung zu beachten. Interessant ist, dass das Bundesgericht den Richtlinien des BAG eine hohe Bedeutung zumisst, den individuell-konkreten Entscheid über die Impfung aber der Kinderschutzbehörde überlässt. Weiter hebt es hervor, dass ein Impfzwang nur durch den Gesetzgeber angeordnet werden kann.

Nach dem Willen des Gesetzgebers stehen Eltern bei gemeinsam ausgeübtem Sorgerecht in der Pflicht, alle Kinderbelange selbst zu regeln, ohne dass ein Elternteil einen Vorrang oder einen Stichentscheid für sich in Anspruch nehmen kann. Dies ergibt sich aus der Überzeugung, dass die Familien- und Elternautonomie in Bezug auf Kinderbelange staatlichen Interventionen vorgehen soll. Ein behördlicher Entscheid kommt so nur dann in Frage, wenn die Meinungsverschiedenheit unter den Eltern zu einer Gefährdung des Kindeswohls im Sinne von Artikel 307 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches führt. Von einer Gefährdung des Kindeswohls ist unter anderem dann auszugehen, wenn die ernstliche Möglichkeit einer körperlichen Beeinträchtigung des Kindes besteht. Nicht erforderlich ist, dass sich die Gefahr bereits verwirklicht hat. Der gesetzliche Kindesschutz ist eine präventive Massnahme.

Gemäss den Informationen der Fachbehörden (Bundesamt für Gesundheit BAG und Eidgenössische Kommission für Impffragen, Empfehlungen zur Prävention von Masern) haben Masern bei praktisch allen Erkrankten eine ausgeprägte Schwächung des Immunsystems zur Folge und führen in rund 10 Prozent der Fälle zu verschiedenen, teils schweren Komplikationen. Angesichts dessen erträgt die Frage, ob eine Masernimpfung durchzuführen ist, unter den Eltern keine Pattsituation. Können sich die Eltern über die Frage der Masernimpfung nicht einigen, hat deshalb die Kindesschutzbehörde oder das Gericht im Rahmen einer Kindesschutzmassnahme darüber zu entscheiden. Empfiehlt das BAG als fachkompetente eidgenössische Behörde eine Masernimpfung, so soll diese Empfehlung für den Entscheid Richtschnur sein. Eine Abweichung davon ist nur im Fall allfälliger Kontraindikationen für die Masernimpfung bei den Kindern angezeigt. Im konkreten Fall üben die getrennt lebenden Eltern die gemeinsame Sorge über ihre drei minderjährigen Kinder aus. Sie sind sich nicht einig, ob die Kinder gegen Masern geimpft werden sollen. 2019 beantragte der Vater (im Rahmen eines Scheidungsverfahrens) beim zuständigen Gericht, die Mutter zu verpflichten, die drei Kinder impfen zu lassen. Der Antrag wurde abgewiesen, was vom Kantonsgericht Basel-Landschaft bestätigt wurde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Vaters teilweise gut und weist die Sache zu neuem Entscheid ans Kantonsgericht zurück. Es wird insbesondere noch die Frage allfälliger Kontraindikationen bei den Kindern prüfen müssen. Das Urteil des Bundesgerichts bedeutet nicht, dass die Kindesschutzbehörde eine Masernimpfung auch anordnen könnte, wenn die Eltern übereinstimmend erklären, ihr Kind nicht impfen zu wollen. Über einen Impfzwang entscheidet der Gesetzgeber.

Hier sind die Kernaussagen des Bundesgerichts:
«Wie die vorigen Erwägungen zeigen, vermag die Art und Weise, wie die Vorinstanz in Ausübung ihres Ermessens eine Gefährdung des Kindeswohls verneint, nicht zu überzeugen. Wer losgelöst von einer besonderen Zwangslage auf den Impfschutz für seine minderjährigen Kinder verzichtet, setzt diese zwar nicht unmittelbar den gesundheitlichen Risiken aus, die mit einer Masernerkrankung verbunden wären. Er nimmt aber jedenfalls die Unwägbarkeiten in Kauf, die eine konkrete Gefahrenlage für seine (gesunden) Kinder mit sich bringt. Gemäss den Informationen der Fachbehörden sind Masern eine hochansteckende Krankheit. Infizierte Personen übertragen Masernviren bereits vor Auftreten des typischen Hautausschlags während der Prodromalphase mit nur milden, unspezifischen Erkältungssymptomen. Masern haben bei praktisch allen Erkrankten eine ausgeprägte Schwächung der zellulären Immunität zur Folge. Diese temporäre Schwächung des Immunsystems ist so ausgeprägt und anhaltend, dass bei Kindern während zwei bis drei Jahren nach einer Masernerkrankung eine erhöhte Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten insgesamt beobachtet wurde. In rund 10 % der Fälle führen Masern zu verschiedenen, teils schweren Komplikationen, wie etwa einer akuten Mittelohrenentzündung (7-9 % der Erkrankten) oder einer Lungenentzündung (1-6 % der Erkrankten). Fieberkrämpfe sind häufig. Eine akute Enzephalitis tritt bei 1-2 pro 1000 Fällen auf. Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine unheilbare, stets letale Spätkomplikation (s. Bundesamt für Gesundheit und Eidgenössische Kommission für Impffragen, Richtlinien und Empfehlungen, Empfehlungen zur Prävention von Masern, Mumps und Röteln, März 2019, S. 5 und 7 f. mit zahlreichen Hinweisen; s. auch TARR/GALLMANN/HEININGER, Masern in der Schweiz, Erkennung und Impfberatung, in: Schweiz Med Forum, 2008, S. 868 ff.).
Angesichts dieser gesundheitlichen Risiken und Gefahren, denen ein Kind ohne Impfschutz gegen Masern ausgesetzt ist, erträgt die Frage, ob eine Masernimpfung durchzuführen ist oder nicht, unter den Eltern keine Pattsituation. Dies ergibt sich aus der besonderen Stellung, die dem Schutz der Gesundheit des Kindes als Grundvoraussetzung für eine möglichst gute Entwicklung zukommt (E. 6.2.3). Können sich die sorgeberechtigten Eltern über diese Massnahme zum Schutz der Gesundheit des Kindes nicht einigen, liegt mithin ein Anwendungsfall von Art. 307 Abs. 1 ZGB vor. Das bedeutet, dass die zuständige Behörde berufen ist, in dieser Frage anstelle der Eltern zu entscheiden. Dabei hat sie in pflichtgemässer Ausübung ihres Ermessens alle für die Beurteilung wesentlichen Elemente in Betracht zu ziehen. Empfiehlt das BAG als fachkompetente eidgenössische Behörde die Durchführung der Masernimpfung, so soll diese Empfehlung für den Entscheid der Behörde Richtschnur sein. Eine Abweichung davon ist nur dort am Platz, wo sich die Masernimpfung aufgrund der besonderen Umstände des konkreten Falles nicht mit dem Kindeswohl verträgt. Allein die vorinstanzliche Feststellung, dass die aktuell grössten Masernausbrüche nicht die Wohnregion der Kinder der Parteien betreffen, schliesst die beschriebene Gefährdung des Kindeswohls nicht aus. Entgegen der Beurteilung des Kantonsgerichts ist die behördliche Anordnung der Masernimpfung als Kindesschutzmassnahme deshalb grundsätzlich angezeigt.» (E.6.2.6.)

Weiter geht es wie folgt: «Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der das gesamte Kindesschutzrecht beherrscht, verlangt sodann, dass die verfügte Massnahme zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung geeignet und erforderlich ist (vgl. Art. 389 Abs. 2 i.V.m. Art. 440 Abs. 3 ZGB). Damit darf der Gefahr insbesondere nicht durch eine der weniger einschneidenden Massnahmen nach Art. 307 ZGB vorgebeugt werden können (vgl. zum Ganzen BGE 140 III 241 E. 2.1 S. 242; Urteile 5A_656/2016 vom 14. März 2017 E. 4; 5A_7/2016 vom 15. Juni 2016 E. 3.3.1; 5A_701/2011 vom 12. März 2012 E. 4.2.1). Dass die streitige Impfung nicht geeignet und erforderlich wäre, um die minderjährigen Kinder nachhaltig gegen eine Masernerkrankung zu schützen, bzw. dass die Kinder auch mit einer milderen Massnahme dauerhaft vor einer Ansteckung geschützt werden könnten, ist nicht ersichtlich. Daran ändert auch die pauschale, nicht weiter belegte Behauptung der Beschwerdegegnerin nichts, wonach Ansteckung, Herdenimmunität und Antikörper-Theorie „bei genauer Betrachtung bei weitem nicht derart bewiesen und/oder aussagekräftig“ seien „wie immer behauptet“. Auch soweit die Beschwerdegegnerin die Verhältnismässigkeit der Masernimpfung unter dem Blickwinkel allfälliger Nebenwirkungen in Frage stellen will, begnügt sie sich mit einem allgemeinen Hinweis darauf, dass die Rückmelderate von Nebenwirkungen nach Impfungen „nachweislich bei 5-10%“ liege, weshalb sich keine verlässlichen Hochrechnungen machen liessen und die Dunkelziffer hoch sei. Dass allfällige schwere unerwünschte Impferscheinungen („UIE“) von ihrem Auftreten her in einem nicht hinnehmbaren Verhältnis zur Häufigkeit schwerer Komplikationen einer Masernerkrankung stehen, ist mit derlei unspezifischen Einwendungen nicht dargetan. Schliesslich lässt sich der präventive Schutz der Impfung zur Verhinderung von Masern auch nicht durch die Injektion von Immunglobulinen erreichen. Wie sich aus den einschlägigen Publikationen der Fachbehörden ergibt, ist die Wirkungsdauer von Immunglobulinen zeitlich begrenzt; deren Verabreichung ist eine Notfallmassnahme für ungeschützte Personen mit hohem Komplikationsrisiko, für die eine aktive Immunisierung kontraindiziert ist und die Kontakt zu einer an Masern erkrankten Person in der Ansteckungsphase hatten (s. Stellungnahme der Ständigen Impfkommission [STIKO] am Robert Koch Institut, Fachliche Anwendungshinweise zur Masern-Postexpositionsprophylaxe bei Risikopersonen, in: Robert Koch Institut, Epidemiologisches Bulletin, 12. Januar 2017/Nr. 2, S. 17 ff.; Empfehlungen des BAG zur Prävention von Masern, Mumps und Röteln, a.a.O., S. 39). Vorbehalten bleibt freilich der Fall, da die Verabreichung von Masernimpfstoffen aufgrund besonderer konkreter Umstände medizinisch kontraindiziert ist (s. dazu ausführlich die zitierten Empfehlungen des BAG zur Prävention von Masern, Mumps und Röteln, S. 33 f.). Nachdem das Kantonsgericht schon den Tatbestand der Gefährdung des Kindeswohls als nicht erfüllt ansieht, äussert sich der angefochtene Entscheid nicht zu allfälligen Kontraindikationen bei den minderjährigen Kindern der Streitparteien. Mit Blick auf seinen neuen Entscheid wird das Kantonsgericht die Frage zu prüfen haben.» (E.6.2.7.).

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