Urteil 6B_742/2019 vom 23. Juni 2020 des Bundesgerichts zur strafrechtlichen Landesverweisung von Ausländern der zweiten Generation

Im Urteil 6B_742/2019 vom 23. Juni 2020 bestätigte das Bundesgericht die strafrechtliche Landesverweisung im Fall eines in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Ausländers, bei dem zwar der Härtefall bejaht wurde, aber das öffentliche Interesse an einer Fernhaltung des Beschwerdeführers gegenüber dessen persönlichen Interessen an einem Verbleib der Vorrang zu gewähren war. Das Bundesgericht betonte in diesem Urteil auch, dass Ausländern der zweiten Generation nicht zwingend ein Bleiberecht in der Schweiz zusteht.

Sachverhalt des Urteils
Die Staatsanwaltschaft Baden wirft A. vor, in der Nacht des 26. März 2017 einen Angestellten einer Pizzeria mit einem 10 Zentimeter langen Küchenmesser bedroht und die Kasseneinnahmen behändigt zu haben. Am 14. April 2017 soll er, wiederum unter Einsatz eines Messers, die Einnahmen eines Kiosks an sich genommen haben. Anschliessend kam es zu einer Fluchtfahrt vor der Polizei. Am 17. Juli 2018 verurteilte das Bezirksgericht Baden A. im Wesentlichen wegen mehrfachen Raubes und qualifiziert grober Verletzung der Verkehrsregeln zu 3 Jahren Freiheitsstrafe, 10 Tagessätzen Geldstrafe und Fr. 300.– Busse. Es ordnete eine vollzugsbegleitende ambulante Massnahme an und verwies A. für 5 Jahre des Landes. Auf dessen Berufung hin bestätigte das Obergericht des Kantons Aargau den erstinstanzlichen Entscheid am 9. Mai 2019.

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A., von einer Landesverweisung sei abzusehen, eventualiter sei die Sache an das Obergericht zurückzuweisen. Dabei bestreitet der Beschwerdeführer weder die ihm zur Last gelegten Straftaten als sog. Katalogtaten noch rügt er die Strafzumessung. Er macht aber geltend, die Landesverweisung sei unangemessen und verstosse gegen Art. 8 EMRK.

Die Vorinstanz, d.h. das Obergericht des Kantons Aargau, legt dar, bejahte zwar einen schweren persönlichen Härtefall, aber gewährte den öffentlichen Interessen an einer Fernhaltung des Beschwerdeführers gegenüber dessen persönlichen Interessen an einem Verbleib den Vorrang. Die Umstände liessen, so die Vorinstanz, nicht darauf schliessen, dass sich der Beschwerdeführer künftig wohl verhalten werde. Dies insbesondere deshalb nicht, weil eine offensichtliche Steigerung seines deliktischen Verhaltens vorliege. Angesichts der konstatierten besonderen Gefährlichkeit des Beschwerdeführers für die öffentliche Sicherheit und der ungünstigen Legalprognose bestehe ein hohes öffentliches Interesse an einer Landesverweisung. Die privaten Interessen des Beschwerdeführers vermöchten dieses trotz eines Härtefalls nicht aufzuwiegen (der Beschwerdeführer wurde in der Schweiz geboren und ist in der Schweiz aufgewachsen).

Allgemeine Ausführungen des Bundesgerichts zur strafrechtlichen Landesverweisung
Das Bundesgericht äusserte sich Urteil 6B_742/2019 vom 23. Juni 2020 wie folgt zur strafrechtlichen Landesverweisung und den zu beachtenden Kriterien:
«Nach dem Gesamtkontext der für die Landesverweisung massgebenden Rechtsordnung ist davon auszugehen, dass trotz des rigiden Gesetzeswortlauts von Art. 66a StGB eine individuelle Einzelfallbeurteilung vorzunehmen ist. Dies ergibt sich zwingend sowohl aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK als auch, soweit anwendbar, nach der zu berücksichtigenden Rechtsprechung des EuGH bei Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU. Der individuelle Rechtsschutz in Strafsachen ist durch Verfassung und Gesetz gewährleistet (Art. 29a BV; Art. 81 BGG; Urteil 6B_48/2019 vom 9. August 2019 E. 2.4.2).
Im Rahmen der Prüfung eines schweren persönlichen Härtefalls gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB hat das Gericht die öffentlichen und privaten Interessen gegeneinander abzuwägen. Die Beurteilung kann kriteriengeleitet nach der Bestimmung über den „schwerwiegenden persönlichen Härtefall“ in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vom 24. Oktober 2007 (VZAE; SR 142.201) erfolgen. Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiärer Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, Aufenthaltsdauer und Resozialisierungschancen. Ebenso ist der Rückfallgefahr und wiederholter Delinquenz Rechnung zu tragen. Das Gericht darf auch vor dem Inkrafttreten von Art. 66a StGB begangene Straftaten berücksichtigen. Die Härtefallklausel ist nach Intention und Gesetzeswortlaut restriktiv („in modo restrittivo“) anzuwenden. Sie dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 144 IV 332 E. 3.1.2 und E. 3.3.1; Urteile 6B_736/2019 vom 3. April 2020 E. 1.1.2; 6B_690/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 3.4.2, zur Publ. vorgesehen).
Die Sachfrage entscheidet sich mithin in einer Interessenabwägung nach Massgabe der „öffentlichen Interessen an der Landesverweisung“. Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, so dass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und auf die Legalprognose abgestellt wird (Urteil 6B_627/2018 vom 22. März 2019 E. 1.6.2 mit Hinweis).» (E.1.1.2)

Art. 8 EMKR
Das Bundesgericht fasst die Praxis zu Art. 8 EMRK im Urteil 6B_742/2019 vom 23. Juni 2020 wie folgt zusammen:
«Art. 8 EMRK verschafft praxisgemäss keinen Anspruch auf Einreise oder Aufenthalt oder auf einen Aufenthaltstitel. Der EGMR anerkennt das Recht der Staaten, die Einwanderung und den Aufenthalt von Nicht-Staatsangehörigen auf ihrem Territorium zu regeln (BGE 144 I 266 E. 3.2 S. 272; Urteil 6B_48/2019 vom 9. August 2019 E. 2.5 mit Hinweisen). Die Staaten sind berechtigt, Delinquenten auszuweisen; berührt die Ausweisung indes Gewährleistungen von Art. 8 Ziff. 1 EMRK, sind die Voraussetzungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu prüfen (Urteil des EGMR in Sachen I.M. gegen die Schweiz vom 9. April 2019, Nr. 23887/16, § 68). Erforderlich ist zunächst, dass die aufenthaltsbeendende oder -verweigernde Massnahme gesetzlich vorgesehen ist, einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK entspricht (Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten etc.) und verhältnismässig ist. Die nationalen Instanzen haben sich unter anderem von folgenden Kriterien leiten zu lassen: Natur und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts im ausweisenden Staat, seit der Straftat abgelaufene Zeit und Verhalten während dieser Zeit, familiäre Situation usw. (Urteil des EGMR in Sachen I.M. gegen die Schweiz, a.a.O., §§ 69 ff.; Urteil 6B_690/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 4.2 mit Hinweisen, zur Publ. vorgesehen).» (E.1.1.3).

Bindung an Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz
Das Bundesgericht legt dabei den Sachverhalt gemäss den Feststellungen der Vorinstanz zugrunde. Das erklärte es wie folgt:
«Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1 S. 253 mit Hinweis; zum Willkürbegriff: BGE 143 IV 241 E. 2.3.1 und 141 IV 369 E. 6.3). Die Willkürrüge muss explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 145 IV 154 E. 1.1; 143 IV 347 E. 4.4; je mit Hinweisen).» (E.1.1.4).

Im vorliegenden erachtete das Bundesgericht die Erwägungen der Vorinstanz als schlüssig. Der Beschwerdeführer brachte nach Ansicht des Bundesgerichts nichts vor, was die Tatsachenfeststellungen als willkürlich oder die Anordnung einer Landesverweisung als bundesrechts- oder völkerrechtswidrig erscheinen liesse (E.1.2.2).

Ausländer zweiter Generation
Das Bundesgericht nahm im Urteil insbesondere die folgenden wichtigen Ausführungen zu Ausländern der zweiten Generation vor:
«Aus BGE 144 IV 332 E. 3.3.3 kann der Beschwerdeführer ebenfalls nichts für sich ableiten. Zum einen statuiert der Entscheid auch gegenüber Ausländern der zweiten Generation keine generelle Verwarnungspflicht seitens der Strafgerichte. Zum andern war der Beschwerdeführer im Unterschied zum zitierten Fall bereits massiv straffällig und zu einer mehrjährigen unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Vorinstanz ist daher auch nicht vorzuwerfen, dass sie eine ungünstige Legalprognose stellt, was sie ausführlich begründet. Der in diesem Zusammenhang erhobene Einwand des Beschwerdeführers, wonach es widersprüchlich sei, einen positiven Verlauf der Suchttherapie und gleichzeitig ein beschränktes Verantwortungsbewusstsein für seine Taten zu konstatieren, ist nicht nachvollziehbar. Entgegen seiner Darstellung beinhalteten die Vorstrafen zudem sehr wohl Gewaltdelikte, insbesondere Nötigungen.

Der Auffassung des Beschwerdeführers zum Trotz trägt die Vorinstanz bei ihrer Interessenabwägung dem Umstand, dass er in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist, ebenso angemessen Rechnung wie den Interessen seines Sohnes, der, wie sie willkürfrei annimmt, im Wesentlichen durch die Kindsmutter und ergänzend durch die Grossmutter väterlicherseits betreut wird. Wenn der Beschwerdeführer wiederum einwendet, die wichtigste Bezugsperson seines Sohnes (gewesen) zu sein, so erschöpft er sich damit in appellatorischer Kritik am angefochtenen Entscheid. Damit ist er nicht zu hören. Wie bereits dargestellt, gilt auch der gestützt auf Art. 13 BV und Art. 8 EMRK geltend gemachte Anspruch des Kindes auf beide Elternteile, resp. das Recht auf ein ungestörtes Familienleben, nicht absolut. Ebenso wenig vermag der Umstand, dass das Familiengericht 2016 die gemeinsame Obhut der Eltern angeordnet hat, die Strafjustiz insoweit zu binden bzw. dem Beschwerdeführer einen Anspruch auf Fortbestand dieser Regelung zu vermitteln. Gleiches gilt für das Vorbringen, wonach die Kindsmutter eine (Mit-) Betreuung durch den Beschwerdeführer für wünschenswert oder aus familiären Gründen gar für notwendig erachten mag. Schliesslich gesteht die Vorinstanz dem Beschwerdeführer zu, dass seine Integration in Serbien und die Aufrechterhaltung seiner familiären Beziehungen mit Unannehmlichkeiten verbunden sein werden. Auch dies begründet freilich kein überwiegendes privates Interesse. Wie sie nachvollziehbar ausführt, ist der Beschwerdeführer – seinen Bestreitungen zum Trotz – auch mit der serbischen Sprache und Kultur vertraut. Hingegen geht die Vorinstanz plausibel von einer beschränkten beruflich-sozialen Integration sowie nicht besonders realistischen Reintegrationschancen des Beschwerdeführers in der Schweiz aus. Dass er hier aufgewachsen ist, ändert daran nichts und begründet, wie ebenfalls dargelegt, kein absolutes Bleiberecht.» (E.1.2.2).

Kommentar zum Urteil
Bei diesem Urteil handelt es sich um einen sehr wichtigen Entscheid des Bundesgerichts zur strafrechtlichen Landesverweisung. Das Urteil zeigt einerseits das methodische Vorgehen bei der Prüfung der strafrechtlichen Landesverweisung. Andererseits zeigt das Urteil auch, dass Ausländer der zweiten Generation, d.h. solche, die in der Schweiz geboren wurden und hier aufgewachsen sind, auch u.U. des Landes verwiesen werden können.

 

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