Präzisierung des Bundesgerichts im Urteil 4. Dezember 2019 (6B_690/2019) zur Härtefallregelung bei Landesverweisung

Das Bundesgericht präzisiert im Urteil 4. Dezember 2019 (6B_690/2019) die Rechtsprechung zur Härtefallregelung bei der Landesverweisung. Ob bei einer Person ein Härtefall vorliegt, weil sie „in der Schweiz geboren oder aufgewachsen“ ist, bestimmt sich weder anhand von starren Altersvorgaben, noch führt eine bestimmte Anwesenheitsdauer automatisch zur Annahme eines Härtefalls. Die Härtefallprüfung ist vielmehr im Einzelfall anhand der gängigen Integrationskriterien durchzuführen. Bei einem 28-jährigen Chilenen, der mit 13 Jahren in die Schweiz gekommen ist, liegt kein Härtefall vor.

Der 1991 geborene, aus Chile stammende Mann hatte 2017 bei einer Auseinandersetzung einen Kontrahenten mit dem Fuss gegen den Kopf getreten. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte 2019 den erstinstanzlichen Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung. Es verurteilte den Mann zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 36 Monaten und verwies ihn für sieben Jahre des Landes.

Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene Beschwerde des Betroffenen ab. Artikel 66a des Strafgesetzbuches (StGB) sieht bei bestimmten Delikten (u.a. bei schwerer Körperverletzung) die obligatorische Landesverweisung von Ausländern vor. Davon kann gemäss Absatz 2 von Artikel 66a StGB ausnahmsweise abgesehen werden, wenn (1.) die Landesverweisung für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) zudem die Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind. Das Bundesgericht hat sich bisher nicht näher mit der Auslegung dieser letztgenannten Bestimmung befasst. Es kommt zum Schluss, dass eine diesbezügliche Anwendung von starren Altersvorgaben oder die automatische Annahme eines Härtefalls ab einer bestimmten Aufenthaltsdauer keine Stütze im Gesetz findet. Vielmehr ist die Härtefallprüfung in jedem Fall aufgrund der gängigen Integrationskriterien vorzunehmen. Der besonderen Situation von in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen ausländischen Personen wird dabei Rechnung getragen, indem eine längere Aufenthaltsdauer, zusammen mit einer guten Integration – etwa aufgrund eines Schulbesuchs in der Schweiz – in aller Regel als starke Indizien für einen Härtefall zu werten sind. Hingegen kann davon ausgegangen werden, dass die in der Schweiz verbrachte Zeit umso weniger prägend war, je kürzer der Aufenthalt und die in der Schweiz absolvierte Schulzeit gedauert haben.

Im konkreten Fall ist der Beschwerdeführer mit 13 Jahren in die Schweiz gekommen. Die hier verbrachte Zeit war zweifellos prägend. Das Gleiche gilt jedoch für die Jahre, die er zuvor in Chile gelebt hat. Seine soziale Einbettung und Integration sind unterdurchschnittlich bis normal. Aufgrund des bisherigen beruflichen Werdegangs kann nicht davon ausgegangen werden, dass er sich erfolgreich und dauerhaft in den Schweizer Arbeitsmarkt integrieren würde. Er ist perfekt zweisprachig und wird voraussichtlich auf dem chilenischen Arbeitsmarkt ohne Weiteres Fuss fassen können. Bezüglich eines Verzichts auf die Landesverweisung fehlt es damit bereits am Erfordernis eines persönlichen Härtefalls, weshalb auf eine Interessenabwägung verzichtet werden kann. Schliesslich ist die Landesverweisung auch mit Blick auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schutz des Privat- und Familienlebens) nicht zu beanstanden.

Kommentare (0)

Wir verwenden Cookies, um unsere Website und Ihr Navigationserlebnis zu verbessern. Wenn Sie Ihren Besuch auf der Website fortsetzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zum Datenschutz finden Sie hier.

Akzeptieren