Löschung von Kommentaren in Online-Foren und Social-Media-Kanälen der SRG: Rechtsweg über Ombudsstelle SRG und UBI

Die Löschung eines Kommentars zu einem redaktionellen Beitrag der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) in einem ihrer Online-Foren oder Social-Media-Kanälen kann gemäss Urteil des Bundesgerichts 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 rechtlich angefochten werden. Ob im Einzelfall ein unzulässiger Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit der Autorin oder des Autors vorliegt, ist nach vorgängigem Schlichtungsversuch der Ombudsstelle SRG durch die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) zu prüfen. Dies ist eine neue Version des Artikels (Update am 5. Januar 2023), mit der Ergänzung durch die begründete Fassung des Urteils, welche am 5. Januar 2023 veröffentlicht wurde.

SRF News veröffentlichte am 10. August 2021 in ihrem übrigen publizistischen Angebot auf Instagram den Beitrag „Deutschland schafft kostenlose Corona-Tests ab“. Eine Person brachte hierzu einen Kommentar an, der von der SRF-News-Redaktion wenige Stunden später gelöscht wurde, da er mit ihrer „Netiquette“ (Regeln der SRG für das soziale Kommunikationsverhalten) nicht vereinbar sei.

Die Autorin des Kommentars gelangte dagegen zunächst an die Ombudsstelle SRG Deutschschweiz, welche die Beanstandung nicht weiter behandelte. Auf die anschliessende Beschwerde der Autorin trat die UBI nicht ein.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 (Medienmitteilungen)

Das Bundesgericht heisst im Urteil 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 die Beschwerde der Autorin an seiner öffentlichen Beratung vom Dienstag gut. Die Kommentarfunktion zu redaktionellen Beiträgen in Online-Foren oder Social-Media-Kanälen der SRG gehört zu ihrem übrigen publizistischen Angebot. Die Kommentarfunktion dient dem Meinungsaustausch und der Meinungsbildung rund um den redaktionellen Beitrag.

Bietet die SRG ausserhalb ihres Programms solche Foren für Meinungsäusserungen an, muss sie möglichst grundrechtskonform handeln und ihrer Rolle als gesamtschweizerisch konzessionierte Anbieterin im Radio- und Fernsehbereich Rechnung tragen.

Mit der Löschung von Kommentaren oder dem individuellen, vorübergehenden oder dauernden Ausschluss von Personen von der Kommentarfunktion greift die SRG in die Meinungsäusserungsfreiheit der Betroffenen ein. Damit muss ein Rechtsweg offen stehen, der den Anforderungen der Bundesverfassung (Artikel 29a BV) genügt. Zivil- oder strafrechtliche Rechtsmittel sind in diesem Zusammenhang nicht hinreichend wirksam; die Streichung eines Kommentars stellt in der Regel keine Persönlichkeitsverletzung oder eine strafrechtlich sanktionierte Ehrverletzung dar, wie der vorliegende Fall belegt. Auch ein Aufsichtsverfahren des Bundesamtes für Kommunikation würde nicht den erforderlichen Rechtsschutz bieten. Es besteht somit kein anderer Rechtsweg als über die Ombudsstelle der SRG und anschliessend die UBI. Die UBI ist gemäss dem Bundesgesetz über Radio und Fernsehen zuständig für Beschwerden im Zusammenhang mit dem Inhalt redaktioneller Beiträge der SRG.

Löscht die SRG aktiv einen Kommentar zu einem redaktionellen Beitrag in ihrem übrigen publizistischen Angebot oder verweigert sie einzelfallweise den Zugang zu Kommentarfunktionen, liegt darin ebenfalls ein wertender redaktioneller Akt. Soweit eine Vermittlung durch die Ombudsstelle der SRG zuvor gescheitert ist, wird die UBI auf Beschwerde hin somit einzelfallbezogen zu prüfen haben, ob die SRG unzulässigerweise in die Meinungsäusserungsfreiheit der Autorin und des Autors eines gelöschten Kommentars eingegriffen hat.

Die schriftliche Begründung dieses wichtigen Urteils des Bundesgerichts 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 wurde am 5. Januar 2023 veröffentlicht.

Zentrale Ausführungen des Bundesgerichts im begründeten Urteil 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 (veröffentlicht am 5. Januar 2023)

Das Bundesgericht äussert sich einleitende wie folgt:

Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist auch bei privatrechtlichem Handeln grundsätzlich zu einer neutralen und sachlichen Haltung verpflichtet (vgl. BGE 139 I 306 E. 3.2.3 [Grundrechtsbindung der SRG im Werbebereich]138 I 274 E. 2.2.2 [Aushängen von Plakaten im Bahnhof]) – dies zumindest in Bereichen, in denen nicht nur eine mittelbare Erfüllung öffentlicher Aufgaben zur Diskussion steht (administrative Hilfstätigkeit bzw. Bedarfsverwaltung; vgl. zu dieser TSCHANNEN/MÜLLER/KERN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2022, N. 71 ff. [differenzierend]; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 2020, N. 1384; MOOR/FLÜCKIGER/MARTENET, Droit administratif, vol. 1, 3. Aufl. 2012, S. 110 ff.; WIEDERKEHR/RICHLI, Praxis des allgemeinen Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2012, N. 166 ff.). “ (E.2.2.1)

Die SRG erfüllt auch mit dem übrigen publizistischen Angebot (üpA) einen Programm- und Leistungsauftrag (vgl. Art. 25 Abs. 3 lit. b RTVG und Art. 1, 3 Abs. 1 und Art. 18 ihrer Konzession vom 29. August 2018; Erläuternder Bericht des BAKOM vom 29. August 2018 „Konzession für die SRG SSR“ zu Art. 1 und Art. 18 der Konzesion [S. 1 u. 10]). Sie ist in diesem Bereich bei ihren Beiträgen gestützt auf Art. 5a RTVG an die Programmgrundsätze von Art. 4 (Mindestanforderungen an den Programminhalt insbesondere die Beachtung der Grundrechte und des Sachgerechtigkeitsgebots) sowie Art. 5 RTVG („Jugendgefährdende Sendungen“) gebunden; auch gilt für sie in diesem Zusammenhang – zumindest teilweise (Wahl- und Abstimmungsdossiers) – das Vielfaltsgebot (Art. 4 Abs. 4 RTVG).“ (E.2.2.2)

Die Kommentarfunktion zu den Social-Media-Beiträgen im übrigen publizistischen Angebot (üpA) steht in engem Zusammenhang mit den der SRG diesbezüglich übertragenen und aus den Radio- und Fernsehabgaben finanzierten konzessionsrechtlichen Aufgaben im Programmbereich (VGL. BGE 136 IV 145 E. 3.6 [QUELLENSCHUTZ FÜR BLOG-KOMMENTAR]; ART. 23 FF. RTVG). Sie dient dem Meinungsaustausch und der Meinungsbildung rund um einen redaktionellen Beitrag der SRG in ihrem übrigen publizistischen Angebot (üpA) und bildet eine Einheit mit diesem, weshalb ihre Beschränkung funktional die entsprechende öffentlichrechtliche Rechtsnatur teilt (zu den Abgrenzungsmethoden: TSCHANNEN/MÜLLER/KERN, a.a.O., N. 367 ff.; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, A.A.O., N. 217 FF.; WIEDERKEHR/RICHLI, A.A.O., N. 156 FF.).“ (E.2.2.3)

Weiter äussert sich das Bundesgericht im Urteil 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 wie folgt:

Wegen dieses engen Sachzusammenhangs und der Auswirkungen der Streichung eines Kommentars im übrigen publizistischen Angebot (üpA) auf die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV) der Kommentierenden und des Publikums im Allgemeinen ist die SRG deshalb auch in diesem Zusammenhang grundrechtsgebunden (zur Grundrechtsbindung der SBB bei ihrem privatrechtlichen Handeln: BGE 136 II 457 6.2 [zum Transportvertrag]; bezüglich einer Nebennutzung der SBB: BGE 138 I 274 E. 2.2 und 2.3 [Aushängen von Plakaten im Bahnhof]). Sie ist mit anderen Worten nicht gleich frei wie ein Privater, da sie diesbezüglich funktional unmittelbar in dem ihr vom Staat übertragenen Aufgabenbereich tätig wird (vgl. TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2014, § 11 N. 17; TSCHANNEN/ MÜLLER/KERN, a.a.O., N. 259 f. mit Hinweisen auf unterschiedliche Auffassungen in der Doktrin). Sie hat deshalb die widerstreitenden Interessen im Rahmen des Meinungsbildungsprozesses rund um die Kommentare zu ihren Beiträgen im übrigen publizistischen Angebot (üpA) nach objektiven Gesichtspunkten gegeneinander abzuwägen und dabei auch dem besonderen ideellen Gehalt der Freiheitsrechte Rechnung zu tragen (vgl. BGE 138 I 274 E. 2.2.2). “ (E.2.3.1)
Ob die Meinungsäusserung dem grundrechtsverpflichteten, mit öffentlichen Aufgaben betrauten Privaten – hier der SRG – mehr oder weniger wertvoll oder wichtig erscheint, darf praxisgemäss nicht ausschlaggebend sein (vgl. BGE 139 I 306 E. 3.2.3138 I 274 E. 2.2.2132 I 256 E. 3 [Kundgebung in Brunnen]124 I 267 E. 3b [Demonstration auf dem Klosterplatz Einsiedeln]). Die SRG ist zwar nicht notwendigerweise gehalten, ausserhalb des Programms Foren für Meinungsäusserungen anzubieten. Das sog. übrige publizistische Angebot (üpA) umfasst jedoch namentlich die Online-Angebote (Art. 18 Abs. 2 der SRG-Konzession). Online-Inhalte mit Sendungsbezug weisen einen zeitlich und thematisch direkten Bezug zu redaktionell aufbereiteten Sendungen oder Teilen von Sendungen auf (Art. 18 Abs. 2 lit. b SRG-Konzession). Sodann sieht Art. 5 Abs. 4 der Konzession vor, dass die SRG „Massnahmen [trifft], um einen permanenten Dialog mit der Bevölkerung zu ermöglichen“ und der Bevölkerung „die Möglichkeit [bietet], sich mit ihr über frei zugängliche Online-Plattformen kostenlos über ihre Programme auszutauschen“. Bietet sie solche Foren an und vermischen sich dabei – wie hier – auf ihren Social-Media-Plattformen Beitrag und Nutzerkommentar zu einer Einheit, muss sie grundrechtskonform handeln und ihrer Rolle als dominierende, von Gesetzes wegen weitgehend aus den Radio- und Fernsehabgaben finanzierte gesamtschweizerisch konzessionierte Anbieterin im Radio- und Fernsehbereich Rechnung tragen (zur Sonderstellung der SRG: URS SAXER/FLORIAN BRUNNER, Rundfunkrecht – Das Recht von Radio und Fernsehen, N. 714 ff., in: Biaggini/Häner/Saxer/Schott [Hrsg.], Fachhandbuch Verwaltungsrecht, 2015; NOBEL/WEBER, a.a.O., S. 539 ff. N. 120 ff. und S. 563 f. N. 187 ff.). “ (E.2.3.2).
In diesem Sinn hat das Bundesgericht zum von der SRG privatrechtlich betriebenen Werbebereich – im Gegensatz zum Programmbereich – in BGE 139 I 306 ff. erkannt, dass ein Eingriff „in die Meinungsäusserungsfreiheit“ der Werbetreibenden seitens der SRG zulässig sein könne, „wenn die Werbung die Menschenwürde“ missachte, als „diskriminierend“ gelten müsse, zu Rassenhass beitrage, die öffentliche Sittlichkeit gefährde oder Gewalt verherrliche oder verharmlose. Dasselbe gelte für Werbungen, welche religiöse oder politische Überzeugungen herabminderten, irreführend oder unlauter seien oder aber zu einem Verhalten anregten, welches die Gesundheit, die Umwelt oder die persönliche Sicherheit gefährdeten oder persönlichkeitsverletzend erschienen (E. 4.2). Das Bundesgericht ist davon ausgegangen, dass Meinungsäusserungen im privatrechtlich betriebenen Bereich der Werbung seitens der SRG bloss verhindert werden dürften, wenn hierfür wichtige Gründe sprächen bzw. sie widerrechtlich erschienen oder gegen überwiegende Eigeninteressen verstossen würden (kritisch hierzu VINCENT MARTENET, in: Martenet/Dubey [Hrsg.], CR Constitution fédérale, 2021, N. 56 zu Art. 35 BV; FRANZ ZELLER/MARTIN DUMERMUTH, in: Waldmann/Belser/Epiney [Hrsg.], BSK Bundesverfassung, 2015, Fn. 121 zu N. 36 von Art. 93 BV; zustimmend: ALEX TSCHENTSCHER, Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 2013 und 2014, ZBJV 2014, S. 810 f.). Die Gründe für die Streichung von Kommentaren auf den Social-Media-Plattformen in der „Netiquette“ der SRG sind ebenfalls unter Beachtung der Grundrechte zu behandeln (vgl. auch nachstehende E. 3). Die SRG räumt diesbezüglich letztlich selber ihre Grundrechtsbindung ein, wenn sie geltend macht, dass es dabei um eine „aus der konzessionsrechtlichen Verantwortlichkeit resultierende Eigenkontrolle“ gehe. “ (E.2.3.3).
Das Bundesgericht kommt, nach weiteren Ausführungen, welche hier nicht dargestellt werden,  im Urteil 2C_1023/2021 vom 29. November 2022 zu diesen Konklusionen:
Die UBI wird somit jeweils – soweit die Vermittlung durch die zuständige Ombudsstelle gescheitert ist (vgl. vorstehende E. 3.3.6) – auf Gesuch hin, deshalb einzelfallbezogen zu prüfen haben, ob die SRG mit der Löschung eines Kommentars im übrigen publizistischen Angebot (üpA) unzulässigerweise in die Meinungsäusserungsfreiheit von dessen Autorinnen oder Autoren eingegriffen hat. Als Richtlinie kann dabei – in analoger Anwendung – die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum ebenfalls privatrechtlich geregelten Werbebereich dienen (vgl. E. 2.3.3; BGE 139 I 306 E. 4.2 und 4.3). Die „Netiquette“ für die Social-Mediaplattformen ist analog zu dieser zu handhaben, soweit die SRG sich solcher Kanälen bedient und in deren Rahmen Drittkommentare zulässt (vgl. vorstehende E. 2.3.2). “ (E.4.1).
Die „Netiquette“ sieht in diesem Sinn (grundsätzlich zulässigerweise) vor, dass (1) persönliche Angriffe jeglicher Art, Beleidigungen oder gezielte Provokationen, auch in Form von Emojis, gelöscht bzw. verborgen werden können. Dasselbe gilt für (2) Diskriminierungen aller Art wie beispielsweise solche aufgrund von Religion, Nationalität, Hautfarbe, sexueller Orientierung, politischer Gesinnung, Alter oder Geschlecht; (3) gewaltverherrlichende oder pornographische Inhalte; (4) (anderweitig) rechtswidrige Inhalte; (5) Kommentare in anderen Sprachen als der Landessprachen bzw. des Englischen; (6) kommerzielle oder politische Werbung; (7) Kommentare, die nur einen Link enthalten; (8) externe Links, die nicht den Vorgaben der „Netiquette“ genügen. Ob Streichungen im Sinne der „Netiquette“ unzulässig sind, da sie keinen Bezug zum Thema haben oder – wie hier – angeblich auf Verallgemeinerungen, Unterstellungen oder Behauptungen beruhen, die sich nicht überprüfen lassen, ist im Einzelfall zu würdigen. Die Grenze für die Löschung eines in die Meinungsäusserungsfreiheit der Nutzer fallenden Kommentars, welche die SRG als grundrechtsgebundene Veranstalterin zu respektieren und nicht grundlos zu beschränken hat, liegt dort, wo gar keine relevante Beeinträchtigung im Sinne der Vorgaben der „Netiquette“ selber (mehr) vorliegt. Ob vorliegend relevante Gründe der Veröffentlichung entgegenstehen, wie dies die SRG annimmt, werden die Ombudsstelle und die UBI zu überprüfen haben.“ (E.4.2).
„Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der angefochtene Entscheid der UBI aufzuheben. Die Angelegenheit ist zur weiteren Prüfung bzw. Vermittlung an die Ombudsstelle SRG Deutschschweiz zurückzuweisen, nachdem deren Bericht Voraussetzung für das Verfahren vor der UBI bildet (vgl. Art. 95 Abs. 1 2. Satz RTVG).“ (E.5.1).
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