Kein einfaches Amt: Rede von Bundeskanzler Walter Thurnherr

Kein einfaches Amt: Am 15. Februar 2019 hielt Bundeskanzler Walter Thurnherr eine Rede zum neuen Bundesratslexikon an der Buchvernissage in der Parlamentsbibliothek.Sie wissen, dass Bundesrätinnen und Bundesräte im Zoo aller politischen Tiere, die man weltweit beobachten kann, eine einzigartige und doch zu wenig bekannte Gattung bilden. Während man in den USA genau Buch führt und weiss, wie viele Präsidenten über einen College Abschluss verfügen, dass Jimmy Carter der erste Präsident war, der in einem Spital geboren wurde, dass die Frau von Präsident Taft auf dem Grün hinter dem Weissen Haus eine Kuh hielt und Mrs Woodrow Wilson am gleichen Ort Schafe züchtete, während man über die deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Helmut Schmidt Anekdoten erzählt und man am Grab von de Gaulle in Colombey les Deux Eglises noch wöchentlich Blumen niederlegt, ist das bei unseren Präsidenten, die alle Bundesräte oder Bundesrätinnen waren, in der Regel anders. Und das nicht nur, weil Amerika nicht mit der Schweiz und General de Gaulle nicht mit Bundesrat Stampfli (oder anderen) vergleichbar ist.

Unser Bundesrat verfügt nicht über jene ausserordentliche Vorrangstellung, die Staatsoberhäupter anderer Länder für sich beanspruchen können. Hierzulande sind zwar die Berge steil, aber die politische Macht ist so gleichmässig flach verteilt wie die Konfitüre auf unserer Brotschnitte – peinlich genau bis an den Rand hinaus verstrichen, damit es für alle reicht, und keiner zu viel davon hat, auch ein Bundesrat nicht. Und selbst protokollarisch oder – noch heikler – was die Zahl seiner Helikopterflüge oder Auslandreisen betrifft, ist der gewählte Bundesrat gut beraten, sich zurückhaltend zu zeigen und sich nicht zu viel herauszunehmen.

Winston Churchill, der bekanntlich in seiner Freizeit gerne malte, störte sich bei der Betrachtung des Ölbilds von Peter Paul Rubens mit dem Titel: „The Lion and the Mouse“ – ein eindrucksvolles Gemälde, das in der Bibliothek des offiziellen Landsitzes des Premierministers in Chequers hängt – weil er die Maus auf dem Bild nie finden konnte. Eines Nachts, kurz vor dem Amtsrücktritt, hielt es Churchill nicht mehr aus, liess sich Pinsel, Farbe sowie eine Leiter bringen und verhalf kurzerhand dem Nagetier bei Rubens zu einem besseren Erscheinungsbild. „Highlighting the small rodent, and giving it more clarity“, wie es hiess.

Stellen Sie sich vor, einer unserer Bundespräsidenten wäre im Landsitz Lohn nach Einbruch der Dunkelheit auf eine Leiter gestiegen, um im Treppenaufgang am grossen Bild von Ferdinand Hodler herumzupfuschen, weil es ihn dünkte, das Gemälde sei noch nicht ganz fertig. Undenkbar: Bei uns muss der Bundesrat eine Expertengruppe mit Vertretern verschiedener Bundesämter einsetzen, nur schon, um ein Bild im Lohn umzuhängen.

Nein, wer bei uns vom Bundesrat spricht, denkt nicht in erster Linie an eigenwillige Leuchtgestalten, sondern an arbeitsame Volksvertreter. Eher vom Schlag wie der Gulliver von Jonathan Swift in seinem Bericht über die Regierung seiner Gastgeber beschrieben hat: „Sie achten mehr auf gute Sitten als auf grosse Begabung. Denn da die Regierung für die Menschheit notwendig ist, glauben sie … es habe nie in der Absicht der Vorsehung gelegen, die Verwaltung der staatlichen Angelegenheiten zu einem Geheimnis zu machen, das nur von wenigen Personen höchster Genialität verstanden werden könnte… Dagegen meinen sie, dass Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Mässigung und dergleichen in jedermanns Macht stünden: die Übung dieser Tugenden mache im Verein mit Erfahrung und guter Absicht jeden beliebigen Menschen für den Dienst an seinem Lande geeignet, ausser wo ein besonderes Studium erforderlich sei“.

Und doch, man sollte sie nicht unterschätzen, die Anforderungen, welche heute an einen Bundesrat gestellt werden: Sehr dossier-kompetent sollten Sie zum Beispiel sein, wenn Sie Bundesrätin oder Bundesrat werden wollen, wenn möglich gleich nach Amtsantritt. Die Verwaltung führen – wenn es geht, recht resolut, um die träge oder blasierte oder unfähige Beamtenschaft endlich zu bessern, aber so, dass die Mitarbeiterstimmung bei der nächsten Befragung trotzdem Höchstwerte erreicht. Ressourcen einsparen und gleichzeitig mehr Leistungen anbieten müssten Sie. Sie müssen schnell entscheiden, und natürlich richtig. Sie müssen gut kommunizieren, klar und deutlich, differenziert und engagiert, in allen Sprachen dieses Landes und in Englisch und ohne das Kollegialitätsprinzip zu verletzen – im richtigen Moment schweigen ist ebenfalls nicht schlecht. Sie sollten in allen parlamentarischen Kommissionen anwesend sein und dabei stets Verständnis zeigen, selbst wenn die Anträge seltsam sind. Sie sollten im Bundesrat Mehrheiten schaffen, im Parlament die Vorlagen durchbringen und möglichst viele Volksabstimmungen gewinnen. Und in der Fraktion sollten Sie den Bundesrat so vertreten, dass sowohl der Bundesrat als auch die Partei mit Ihrem Votum leben können. Sie sollten alle Branchenverbände regelmässig zum Gespräch empfangen, und alle 26 Kantonsregierungen natürlich auch. Sie sollten nicht zu viel ins Ausland reisen, aber auch nicht zu wenig. Wenn Sie reisen, achten Sie auf kleine Delegationen, treten Sie selbstbewusst auf und bringen Sie gute Verträge nach Hause. Sie sollten brillante Reden halten. Sie sollten Humor haben und bescheiden sein. Sie müssen den Zeitgeist spüren, einen Draht zum Volk haben, sehr beliebt sein und sehr beliebt bleiben. Sie müssen zu jedem Thema eine Strategie präsentieren können. Sie sollten jedem Journalisten jederzeit ein Interview geben und jede falsche Anschuldigung in jedem Medium sportlich nehmen. Sie sollten bei Staatsbesuchen nicht zwei Mal dasselbe Kleid tragen, und überhaupt – vor allem als Bundesrätin – sollten Sie immer bestens aussehen. Sollten Sie Kinder haben: Bitte nicht vernachlässigen, das kommt nicht gut an. Die Kinder müssen im Übrigen mustergültig sein, sonst sind Sie auch kein guter Bundesrat. Ich könnte die Aufzählung noch beliebig verlängern, aber Urs Altermatt hat mich gebeten, hier abzubrechen, sonst gibt es bei seinem Lexikon keine Fortsetzung mehr. Ich wollte damit auch nur sagen, und das wissen Sie alle: So einfach ist das Amt nicht, von dem wir hier reden, und einfach war es nie. Und manch ein Kandidat soll froh und dankbar sein, dass er nicht gewählt wurde, denn vielleicht ist ihm dadurch viel erspart geblieben.

Ich glaube darüber hinaus, dass das Amt nicht einfacher wird. Die Interessenkonflikte dürften zunehmen, die finanziellen Mittel werden vielleicht nicht überall ausreichen, und die aussenpolitischen Herausforderungen werden bestimmt nicht kleiner. Nur ein Beispiel: das Verhältnis zwischen Bundesrat und Parlament. Es ist nicht immer spannungsfrei. Das Parlament, die Legislative, ist die gesetzgebende Gewalt. Aber wenn Sie genauer hinschauen, stellen Sie fest: Die Gesetze werden immer komplexer. Immer mehr braucht es die Expertinnen und Experten der Verwaltung. Immer mehr muss international abgestimmt sein oder wird sogar international vorgegeben. Und immer häufiger scheint es dem Parlament, die Verwaltung – statt es selbst – „mache“ die Gesetze, oder mindestens den grössten Teil davon. Gereizt wird denn auch ab und zu ein Entwurf zurückgewiesen, und sei es nur, um zu zeigen, wer hier eigentlich der Gesetzgeber ist.

Umgekehrt gehört die Aussenpolitik in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich der Exekutive. Aber wenn Sie genauer hinschauen, stellen Sie fest: Die aussenpolitischen Themen werden immer mehr durch das Parlament bestimmt. Immer öfter berufen sie sich auf ihr Mitwirkungsrecht, greifen direkt ein und verlangen, dass der Migrationspakt nicht unterzeichnet wird, dass die Übernahme von Empfehlungen internationaler Organisationen von der Zustimmung des Parlaments abhängig gemacht wird, dass es zu Kandidaturen in internationalen Gremien vorgängig konsultiert wird oder dass es selber entscheiden kann, in welche Länder Kriegsmaterial exportiert werden soll.

Und somit entsteht beim Parlament der Eindruck, die Verwaltung halte sich nicht an die Verfassung, weil sie immer mehr die Gesetzgebung dominiert. Und in der Verwaltung entsteht der Eindruck, das Parlament halte sich nicht an die Verfassung, weil es immer mehr die Aussenpolitik bestimmt. Und beide haben ein bisschen Recht, und der Bundesrat steht mitten drin.

Das bundesrätliche Amt wird aber auch aus einem anderen Grund unterschätzt, und der deutet an, weshalb die politischen Tiere der fraglichen Gattung trotz aller widrigen Umstände nicht vom Aussterben bedroht sein dürften. Denn obwohl die explizite Macht dieses Amtes beschränkt ist: In kaum einem Land Europas ist der zuständige Minister so lange so nahe bei einem Dossier und kann so gezielt Einfluss nehmen wie ein Bundesrat im schweizerischen Gesetzgebungsprozess: Er legt einen Gesetzesvorschlag vor, begleitet die Vernehmlassung und wertet sie aus. Er ist in den parlamentarischen Kommissionen bei der Beratung dabei, vertritt den Antrag vor dem Parlament, und sollte es zu einer Abstimmung kommen, prägt er die Argumente und führt die Kampagne. Das gibt ihm erheblich mehr Gewicht, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Mit anderen Worten: Ein bisschen dicker ist die Konfitüre schon aufgetragen, dort, wo ein Bundesrat oder eine Bundesrätin ins Brot beisst. Und man kann, wenn man will und fähig ist, auf dieser Position etwas verändern in der Schweiz. Darüber hinaus: Es gibt hierzulande keine Amtszeitbeschränkung, keine Vertrauensabstimmung und kein Impeachement. Das Portfolio ist breit, und die Amtszeit ist lang. In den letzten 170 Jahren wurden nur 119 Bundesräte gewählt (über 20 Prozent davon leben übrigens noch). Andere Staaten brauchen keine zehn Jahre, um gleich viele Kabinettsmitglieder zu wählen, wie wir seit der Gründung des Bundesstaates bestimmt haben.

Meine Damen und Herren, die Amerikaner kennen die Redewendung: „Before you criticize a man, walk a mile in his shoes“. Und gewöhnlich fügen sie an: „That way, when you criticize him, you’ll be a mile away, and you have his shoes“. Natürlich haben Bundesrätinnen und Bundesräte ihre Fehler und Mängel, ihre Eitelkeiten und Macken, wie übrigens viele andere auch. Zweifellos gibt es bessere und weniger gute. Aber wenn Sie das nun vorliegende Bundesratslexikon durchblättern, sehen Sie auch, wie viele davon sich mit aller Kraft, mit grosser Verantwortung, mit viel Können und mit beachtlichem Mut für dieses Land eingesetzt haben. Es gab einige Abschnitte unserer Geschichte, etwa zu Beginn des Bundesstaates oder während den langen, bedrohlichen Kriegsjahren, in denen der Bundesrat mit existenziellen Fragen konfrontiert war, soziales Elend, krasse Ungerechtigkeiten oder dramatische Versorgungsschwierigkeiten herrschten. Insbesondere in diesen Zeiten dürfte die plagende Anspannung der Verantwortung manchem Bundesrat den Schlaf geraubt haben. Aber auch später: Viele Errungenschaften scheinen uns heute selbstverständlich. Sie sind aber alle nicht vom Himmel gefallen, sondern von Politikerinnen und Politikern vor uns erdacht, erkämpft und umgesetzt worden. Und dahinter steht nicht selten die Arbeit einer Bundesrätin oder eines Bundesrats.

Die Schweiz war bekanntlich nicht immer so wohlhabend und so versichert, so vernetzt und so stabil, wie es heute der Fall ist. Und obwohl der eine oder andere hierzulande davon ausgeht, wir Schweizerinnen und Schweizer seien sozusagen „genetisch bestimmt“, all die eitlen Ranglisten über Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Lebensstandard anzuführen, die vor und nach jedem WEF publiziert werden: Es steht nirgends geschrieben, dass die Zukunft der Schweiz automatisch so gut sein wird wie die Gegenwart. Es kann gut sein, dass es künftig noch mehr darauf ankommen wird, welche Persönlichkeiten im Bundesrat vertreten sind. Und gut möglich, dass wir es nicht bereuen, wenn wir den mit Umsicht geschaffenen Institutionen des Bundes sowie den Beziehungen unter ihnen etwas mehr Sorge tragen würden.

Das Bundesratslexikon, dessen Veröffentlichung wir heute begrüssen und auch ein bisschen feiern dürfen, ist auch nicht von selbst entstanden. Viel Recherche, Organisation und Schreibarbeit war dafür nötig. Ich möchte allen Autorinnen und Autoren für Ihren Beitrag danken. Sie können stolz sein auf das Buch, das nun vorliegt. Besondere Anerkennung verdient natürlich der Herausgeber und Mitautor Professor Urs Altermatt, ohne dessen Engagement und Arbeit wir heute nicht hier wären. Ich möchte ihm insbesondere dafür danken, dass er einleitend im Buch die Funktion des Bundeskanzlers anspricht. Bis anhin musste ich bei jedem zweiten Vortrag ausführen, es sei nicht einfach, die Aufgaben des Bundeskanzlers zu beschreiben, und verwies dann jeweils auf die meines Erachtens guten Erklärungen und grafischen Darstellungen auf der Website meiner deutschen Amtskollegin. In Zukunft werde ich auf die etwas differenziertere Schilderung bei Urs Altermatt hinweisen.

Aber jetzt wünsche ich Ihnen einen sc

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