Gemäss Bundesgericht unzulässige Hauptverhandlung per Videokonferenz

Heute hat das Bundesgericht wohl das Urteil des Jahres 2020 publiziert, mit Sicherheit aber das erste höchstrichterliche Schweizer Urteil zur Justiz in der COVID-19 (Coronavirus) Pandemie. Im Urteil geht es um eine Hauptverhandlung am Handelsgericht des Kantons Zürich per «ZOOM Cloud Meetings», welcher eine Partei nicht zugestimmt hat und ihr ferngeblieben ist. Die Durchführung der Hauptverhandlung per Videokonferenz gegen den Willen einer Partei verletzt gemäss dem Urteil des Bundesgerichts 4A_180/2020 vom 6. Juli 2020 die Zivilprozessordnung. Das Handelsgericht kann sich auch nicht auf die ausserordentliche Lage infolge der Coronavirus-Pandemie stützen. Das Bundesgericht betonte, dass die ZPO die Hauptverhandlung als mündliche Verhandlung im Gerichtssaal mit physischer Anwesenheit konzipiert hat. Durch Richterrecht könne schon gar nicht davon abgewichen werden.

Relevanz des Urteils

Dieses Urteil des Bundesgerichts ist von höchster Relevanz. Es betrifft zwar «nur» Zivilprozess und die ZPO. Vergleichbare rechtliche Fragen werden sich aber auch in der Schiedsgerichtsbarkeit, dort vielleicht etwas weniger, weil die Parteivertreter wegen der Unmöglichkeit oder Schwierigkeit von internationalen Reisen Videokonferenzen fast zustimmen, müssen, im Strafrecht und im Verwaltungsrecht. Es ist anzunehmen, dass das Bundesgericht in anderen Rechtsgebieten bzw. anderen Verfahrensordnungen als der ZPO ähnlich entscheiden würde.

Sachverhalt

Im Rahmen eines Zivilverfahrens vor dem Handelsgericht des Kantons Zürich wurde Ende Februar 2020 die mündliche Hauptverhandlung auf den 7. April 2020 festgelegt. Nach Ausbruch der Coronavirus-Pandemie ordnete die Vizepräsidentin die Durchführung dieser Hauptverhandlung per Videokonferenz mit der Smartphone-Applikation „ZOOM Cloud Meetings“ an. Die Beschwerdeführerin beantragte beim Handelsgericht erfolglos die Absage der Hauptverhandlung und nahm an dieser in der Folge nicht teil. Das Handelsgericht hiess die Klage vollumfänglich gut.

Anwälte der Parteien

Die erfolgreiche Beschwerde zu diesem bundesgerichtlichen Leiturteil haben die Kollegen Markus Gresch und Anibal Varela aus Zürich geführt. Die vor Bundesgericht unterliegende Partei wurde durch David Horak vertreten.

Kurzusammenfassung des Urteils

Entscheid des Bundesgerichts

Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beschwerdeführerin beim Bundesgericht die Aufhebung des Urteils des Handelsgerichts und die Rückweisung der Sache zur rechtskonformen Durchführung des Verfahrens. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Das Handelsgericht verfügte über keine gesetzliche Grundlage, um eine Videokonferenz gegen den Willen einer Partei anzuordnen, und es kann sich auch nicht auf die ausserordentliche Lage infolge der Coronavirus-Pandemie stützen.

Begründung des Bundesgerichts

Die Zivilprozessordnung (ZPO) konzipiert die Hauptverhandlung als mündliche Verhandlung im Gerichtssaal bei physischer Anwesenheit der Parteien und der Gerichtsmitglieder. Der Gesetzgeber hat beim Erlass der ZPO die elektronischen Kommunikationsformen bedacht, aber auf die Möglichkeit, mündliche Verhandlungen via Videokonferenz durchzuführen, verzichtet. Das Gesetz setzt für die elektronische Kommunikation mit den Parteien im Zivilverfahren grundsätzlich deren Einverständnis voraus.

Im Rahmen seines Entwurfs vom 26. Februar 2020 zur Änderung der ZPO schlägt der Bundesrat die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Abnahme gewisser Beweise per Videokonferenz vor. Dieser gesetzgeberischen Entwicklung soll nicht durch einen richterlichen Entscheid vorgegriffen werden. Der Umstand, dass es offenbar schwierig war, einen Termin für die Hauptverhandlung zu finden, ändert daran nichts. Gleiches gilt in Bezug auf das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot (Artikel 29 Absatz 1 Bundesverfassung).

Coronavirus (COVID-19) Situation ist nicht genügend als Grund

Ebenso wenig vermag die ausserordentliche Lage der Coronavirus-Pandemie die Anordnung der Videokonferenz zu stützen. Die bundesrätliche Verordnung über Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang mit dem Coronavirus (SR 272.81), welche unter gewissen Bedingungen eine Videokonferenz ermöglicht, trat erst am 20. April 2020 in Kraft, also nach der strittigen Hauptverhandlung vom 7. April 2020. Die Verordnung war deshalb in diesem Fall nicht anwendbar. Da die Anordnung der Videokonferenz unzulässig war, brauchte das Bundesgericht die Sicherheitsbedenken hinsichtlich der „ZOOM Cloud Meetings“- Applikation nicht zu beurteilen, die der Rechtsanwalt geltend gemacht hat

Ausführliche Darstellung des Urteils

Beanstandungen der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass die Vorinstanz die Hauptverhandlung ohne ihr Einverständnis mittels Videokonferenz durchgeführt habe. Sie erblickt darin eine Verletzung ihres Anspruchs „auf Durchführung einer ordnungsgemässen Hauptverhandlung“ und namentlich der Art. 233 und Art. 236 Abs. 1 ZPO (E.2.).

Argumentation des Handelsgerichts

Die Vizepräsidentin des Handelsgerichts, Dr. Claudia Bühler, erwog im Schreiben vom 24. März 2020, angesichts der „gravierenden Pandemie-Notlage“, deren Ende nicht absehbar sei, und der „zentralen Bedeutung einer weiterhin funktionierenden Justiz“ für Bevölkerung und Wirtschaft lasse sich die Anordnung, die Hauptverhandlung im Rahmen einer Videokonferenz durchzuführen, auf „Richterrecht“ stützen. Sie verwies auf Art. 1 Abs. 2 ZGB „analog“ sowie Art. 52 ZPO.

Immerhin – so die Vizepräsidentin weiter – sehe die Zivilprozessordnung die Aufzeichnung von Verhandlungen mittels „Video oder anderen geeigneten technischen Hilfsmitteln“ in Art. 235 Abs. 2 Satz 2 ZPO (ferner: Art. 176 Abs. 2 ZPO) ausdrücklich vor. „Mit Blick auf die richterrechtliche Lückenfüllung“ sei weiter zu beachten, dass die Zivilprozessordnung bewusst nach dem Grundsatz „Mut zur Lücke“ konzipiert sei, um „der Praxis den nötigen Spielraum“ zu verschaffen. Auch „der Fortbildung des Rechts [sei] Raum zu geben“. Die Strafprozessordnung, die – verglichen mit der Zivilprozessordnung – generell eine detailliertere Regelung anstrebe, sehe in Art. 144 StGB eine einseitig angeordnete Videokonferenz sogar ausdrücklich vor. Zwar gelte diese Regelung nur bei Einvernahmen. Sie zeige aber, dass seitens des Gesetzgebers „keine Einwände grundsätzlicher Art“ gegen Videokonferenzen bestünden.

Die geringfügige Einbusse an Unmittelbarkeit sei unter den „vorliegenden pandemischen Umständen“ verhältnismässig. Entsprechendes gelte auch „für allfällige Sicherheitsbedenken“, zumal die Verhandlung ohnehin „öffentlich“ sei. Dabei werde dem Öffentlichkeitsgrundsatz nach Ansicht des Notfallstabs des Obergerichts des Kantons Zürich hinreichend Rechnung getragen, wenn akkreditierten Medienschaffenden die Möglichkeit geboten werde, der Videoübertragung zu folgen.

Die Vizepräsidentin wies abschliessend darauf hin, dass sich die Terminfindung mit den Parteien als „ausserordentlich zeitraubend“ erwiesen habe und auch aus diesem Grund eine Verschiebung „von derzeit noch unbekannter Dauer“ angesichts des Beschleunigungsgebots unverhältnismässig sei (E.2.2.).

In der Verfügung des Handelsgerichts Zürich vom 1. April 2020 wurde auf diese Erwägungen verwiesen. Ergänzend gab die Vizepräsidentin Dr. Claudia Bührer insbesondere zu bedenken, dass „überhaupt nicht absehbar“ sei, ab welchem Zeitpunkt die Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung wieder möglich sein werde. Diese Aussicht verlange „eine pragmatische und entschlossene Reaktion der Gerichte“.

Die datenschutzrechtlichen Einwände der Beschwerdeführerin seien nicht überzeugend. Namentlich habe der Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich die App „Zoom Cloud Meetings“ datenschutzrechtlich und sicherheitstechnisch beurteilt. Er sei zum Schluss gekommen, dass sie von den öffentlichen Organen im Kanton Zürich während der „Corona-Krise“ datenschutzkonform eingesetzt werden könne, „wenn die entsprechenden Hinweise und Einschränkungen“ berücksichtigt würden. Betreffend „Zoom Cloud Meetings“ verlange der Datenschutzbeauftragte konkret, dass das „Global Date Processing Addendum“ unterzeichnet und an „Zoom“ retourniert werde. Dem sei das Handelsgericht nachgekommen.

Auf das Verlesen der Plädoyernotizen könne – „sollten diesbezügliche Sicherheitsbedenken vorherrschen“ – verzichtet werden, da diese ohnehin vorgängig (per E-Mail) an den Gerichtsschreiber, den Instruktionsrichter sowie an die Gegenpartei zu senden seien. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern es im Rahmen einer Videokonferenz nicht möglich sein solle, die Gerichtspersonen vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, zumal anlässlich der Hauptverhandlung „keine Ausführungen rechtlicher und tatsächlicher Art, sondern bloss Noven“ zu protokollieren seien. (2.3.).

Ausführungen des Bundesgerichts

Allgemeine Ausführungen

Das Bundesgericht betonte zuerst, dass die Prozessleitung dem Gericht obliege und dem Gericht auch in vielen Punkten ein richterliches Ermessen zustehe. Es stehe aber ausser Frage, dass dabei die rechtlichen Vorgaben einzuhalten sind. Letztere sind gemäss dem Bundesgericht unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Das strittige Verfahren vor dem Handelsgericht Zürich richtete sich nach der Zivilprozessordnung (ZPO). Dazu gehört auch ein Anspruch auf eine rechtskonforme Hauptverhandlung, sofern und soweit nicht beide Parteien auf eine solche verzichten (Art. 233 ZPO).

Folglich musste das Bundesgericht prüfen, ob Vizepräsidentin Dr. Claudia Bührer aufgrund der Zivilprozessordnung befugt war, verbindlich auch ohne das Einverständnis beider Parteien anzuordnen, das die Hauptverhandlung im Rahmen einer Videokonferenz mittels «Zoom Cloud Meetings» durchgeführt werde.

Zur Hauptverhandlung nach Art. 228 ff. ZPO

Das Bundesgericht äusserte sich wie folgt zur Hauptverhandlung nach Art. 228 ff. ZPO: «Die Zivilprozessordnung regelt die Hauptverhandlung in den Art. 228 ff. Bestandteil dieser Verfahrensphase sind – nach dem „Beginn der Hauptverhandlung“ (vgl. Art. 229 Abs. 2 ZPO) – grundsätzlich die ersten Parteivorträge (Art. 228 ZPO), die Beweisabnahme (Art. 231 ZPO) und die Schlussvorträge (Art. 232 ZO). Dabei setzt das Gesetz die physische Anwesenheit der vorgeladenen Personen und der Gerichtsmitglieder am gleichen Ort als selbstverständlich voraus (siehe auch BOHNET/MARIOT, La vidéoconférence et le projet de révision du CPC, SZZP 2020, S. 185; dieselben, COVID-19 et oralité en procédure civile, Justice – Justiz – Giustizia 2020/2, Rz. 20 f.; BEAT BRÄNDLI, Prozessökonomie im schweizerischen Recht, 2013, Rz. 430 S. 199; anders FRANÇOISE BASTONS BULLETTI, Crise du Covid-19 et évolution des audiences en procédure civile, Justice – Justiz – Giustizia 2020/2, Rz. 10; DANIEL KETTIGER, Gerichtsverhandlungen, Anhörungen und Einvernahmen mittels Videokonferenz, Jusletter vom 4. Mai 2020, Rz. 8). Dies ergibt sich etwa aus den Bestimmungen, welche das  Erscheinen an der Hauptverhandlung und daran geknüpfte Säumnisfolgen regeln (siehe etwa Art. 133 lit. d, Art. 134 f., Art. 147 Abs. 1 ZPO; in den anderen Amtssprachen: la „comparution“, la „comparizione“). Zuweilen wird ein  persönliches Erscheinen gefordert und eine Dispensation namentlich wegen Alter sowie Krankheit erlaubt (siehe Art. 273 Abs. 2 und Art. 278 ZPO; vgl. ferner Art. 68 Abs. 4 ZPO). Gemäss Art. 231 ZPO nimmt das Gericht anlässlich der Hauptverhandlung die Beweise ab, so beispielsweise das Zeugnis. Dabei kann das Gericht den Parteien gestatten, Zeugen ohne Vorladung  mitzubringen (Art. 170 Abs. 2 ZPO; „amener des témoins“, „presentarsi con testimoni“). Art. 170 Abs. 3 ZPO ermöglicht die Befragung am Aufenthaltsort des Zeugen, womit gleichzeitig gesagt ist, dass die Befragung im Grundsatz und ohne eine solche Anordnung am Ort der Hauptverhandlung – prinzipiell im Gerichtsaal, jedenfalls in physischer Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten – stattfindet (vgl. LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2016, S. 262 Rz. 9.87; SVEN RÜETSCHI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. II, 2012, N. 11 zu Art. 170 ZPO; siehe sodann auch Art. 171 und Art. 174 ZPO). Der Gegenstand des Augenscheins ist einzureichen, wenn er ohne Nachteil vor Gericht  gebracht werden kann (Art. 181 Abs. 3 ZPO). Nach Art. 239 Abs. 1 lit. a ZPO kann das Gericht seinen Entscheid ohne schriftliche Begründung in der Hauptverhandlung durch  Übergabe des schriftlichen Dispositivs an die Parteien mit kurzer mündlicher Begründung eröffnen. Auch dies setzt voraus, dass die Parteien physisch anwesend sind (Urteil 5A_253/2013 vom 12. August 2013 E. 3.2).» (E.3.2.).

Der Kernsatz des Bundesgericht zur Hauptverhandlung nach der ZPO folgt darauf: «Die Zivilprozessordnung konzipiert die Hauptverhandlung mithin als mündliche Verhandlung im Gerichtssaal bei physischer Anwesenheit der Parteien und der Gerichtsmitglieder.» (E.3.2. a.E.).

Ausführungen zu elektronischen Kommunikationsformen

Das Bundesgericht geht dann auf das Gewicht ein, dass der Gesetzgeber beim Erlass der Zivilprozessordnung (ZPO) den elektronischen Kommunikationsformen gegeben hat sowie über die Möglichkeit von Kantonen Pilotprojekte durchzuführen (E.3.).

Ausführungen zum Entwurf vom 26. Februar 2020 betr. Änderung der ZPO

Das Bundesgericht nimmt anschliessend den Entwurf zur ZPO-Revision vom 26. Februar 2020 auf: «Der Bundesrat regt im Rahmen seines Entwurfs vom 26. Februar 2020 betreffend die Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) an, die Einvernahmen von Zeugen, die Erstattung von Gutachten sowie die Parteibefragungen und Beweisaussagen „neu“ mittels Videokonferenz möglich zu machen (vgl. Art. 170a, Art. 187 Abs. 1 Satz 3, Art. 187 Abs. 2 und Art. 193 E-ZPO [BBl 2020 2789 f.]). Er sieht angesichts der „stetig zunehmenden technischen Möglichkeiten und ihrer Verbreitung sowie der parallel zunehmenden Internationalität fast sämtlicher Lebensbereiche und damit auch der an einem Zivilverfahren beteiligten Personen“ Bedarf für eine solche Regelung. Ein spezifisches Bedürfnis dafür bestehe insbesondere im Zusammenhang mit den laufenden Bestrebungen zur Positionierung der Schweiz als internationaler Justizplatz (Botschaft vom 26. Februar 2020 zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung [Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung], BBl 2020 2718 f. Ziff. 4.1.6 und 2750 zu Art. 170a).»  (E.3.4.).

Fragen zur Hauptverhandlung per Videokonferenz

Bezüglich der Durchführung einer Hauptverhandlung per Videokonferenz stellen sich für das Bundesgericht viele Fragen: «Die Durchführung einer Hauptverhandlung in Form einer Videokonferenz wirft verschiedene rechtliche und praktische Fragen auf; dies jedenfalls dann, wenn alle Verfahrensbeteiligten – wie vorliegend – „von ihrem jeweiligen Standort aus über ihre Mobiltelefone“ teilnehmen sollen. So fragt sich, wie die Öffentlichkeit des Verfahrens (Art. 54 ZPO) sichergestellt wird und wie die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten gewahrt werden können. Es sind datenschutz- und datensicherheitsrechtliche Vorgaben zu beachten. Ferner werden sich säumnisrechtliche Fragen stellen, wenn die Videokonferenz nicht zustande kommt oder die technische Verbindung abbricht (oder – was davon nicht immer unterscheidbar sein dürfte – von einem Teilnehmer absichtlich abgebrochen wird; vgl. Art. 234 ZPO). Hält sich eine Partei im Ausland auf, sind rechtshilferechtliche Bestimmungen einzuhalten. Auch ist diskutiert worden, wie sich die Durchführung einer Verhandlung mittels Videokonferenz zum Anspruch der Parteien auf gleiche und gerechte Behandlung (vgl. Art. 29 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK [droit à un procès équitable]) und zum „Unmittelbarkeitsprinzip“ verhält (siehe BOHNET/MARIOT, a.a.O., S. 183-185 und S. 192 f.; KETTIGER, a.a.O., Rz. 9 f.).» (E.3.5.).

Das Bundesgericht bricht dann die Diskussion ab und betont, dass es entscheidend sei dass die Zivilprozessordnung den Einsatz technischer Hilfsmittel vorsieht und regelt: «Entscheidend ist, dass die Zivilprozessordnung den Einsatz technischer Hilfsmittel – dort, wo dies der Gesetzgeber als sinnvoll erachtete – vorsieht und regelt. Sie bietet dagegen keine Handhabe, eine Partei zur Teilnahme an einer via Videokonferenz durchgeführten Hauptverhandlung zu verpflichten. Vielmehr setzt sie – wie erwähnt – für die elektronische Kommunikation mit den Parteien grundsätzlich deren Einverständnis voraus. Die zivilprozessrechtliche Grundlage für die Abnahme gewisser Beweise mittels Videokonferenz soll erst geschaffen werden. Es geht nicht an, dieser gesetzgeberischen Entwicklung unter Hinweis auf ein nicht näher bestimmtes „Richterrecht“ vorzugreifen. Der Umstand, dass es offenbar schwierig war, einen Termin für die Hauptverhandlung zu finden, ändert daran nichts. Gleiches gilt in Bezug auf das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot (Art. 29 Abs. 1 BV). Dieses gibt zwar einen Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist, schafft aber keine Verfahrensformen, die gesetzlich nicht vorgesehen sind (siehe auch vorstehende Erwägung 3.1).» (E.3.6.).

Kurz und bündig folgt dann die Konklusion des Bundesgerichts zur Verfügung des Handelsgerichts Zürich: «De lege lata ist das Mittel der Videokonferenz in der Zivilprozessordnung nicht vorgesehen. Das Vorgehen der Vizepräsidentin des Handelsgerichts entbehrt mithin der gesetzlichen Grundlage.» (E.3.7.).

Sonderfall «Pandemie-Notlage»?

Weiter gibt das Bundesgericht darauf ein, ob die «Pandemie-Notlage» das Vorgehen des Handelsgerichts zu stützen vermag, wie Dr. Claudia Bühler in ihrem Schreiben vom 24. März 2020 erklärte.

Nach verschiedenen allgemeinen Ausführungen bemerkte das Bundesgericht, dass die Verordnung vom 20. März 2020 über den Stillstand der Fristen im Zivil- und Verwaltungsverfahren zur Aufrechterhaltung der Justiz im Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19) auf sie keine Anwendung fand, da sie später in Kraft trat. Dort wäre die Möglichkeit vorgesehen gewesen, in Abweichung von Art. 54 ZPO Verhandlungen mittels Videokonferenz durchzuführen, wenn die Parteien damit einverstanden sind oder wichtige Gründe vorliegen, insbesondere Dringlichkeit (E. 4.3.).

Auch wenn das Bundesgericht recht lange Ausführungen zur Möglichkeit der Durchführung von Videokonferenzen machte, hielt es dann fest, dass sich das Bundesgericht nicht über die Gesetzeskonformität dieser Verordnung Gedanken zu brauchen macht, da diese erst nach der strittigen Hauptverhandlung in Kraft trat und mithin als rechtliche Grundlage für die angeordnete Videokonferenz ausscheidet (E.4.4.).

Kein «Richterrecht» zulässig

Das Bundesgericht schmettert mit grosser Wucht die Argumentation der Einsetzung der Videokonferenz durch Richterrecht ab: «Ebenso wenig kommt „Richterrecht“ als Grundlage in Betracht. Denn es ist – auch und gerade in einer ausserordentlichen Lage – am Gesetz- und Verordnungsgeber, die rechtlichen Voraussetzungen obligatorischer elektronischer Kommunikation zwischen dem Gericht und den Parteien im Zivilprozess zu schaffen und zu präzisieren. Hingegen war es angesichts der abschliessenden Regelung im Gesetz nicht angezeigt, den praktischen Schwierigkeiten mit „richterrechtlicher Lückenfüllung“ im Einzelfall zu begegnen, zumal nicht erkennbar ist, dass ein Fall von Dringlichkeit vorgelegen hätte. Es bleibt daher dabei: Für das mit Schreiben vom 24. März 2020 angeordnete und mit Verfügung vom 1. April 2020 bestätigte Vorgehen der Vorinstanz, die Hauptverhandlung vom 7. April 2020 ohne Einverständnis aller Parteien im Rahmen einer Videokonferenz abzuhalten, bestand (zumindest damals) keine rechtliche Grundlage.» (E.5).

Keine höchstrichterliche Beurteilung von ZOOM Cloud Meetings

Aufgrund der Unzulässigkeit der Hauptverhandlung per Videokonferenz gingt das Bundesgericht nicht auf das Thema Sicherheitsbedenken bei «ZOOM Cloud Meetings» ein. (E.6.).

Entlassung der unterliegenden Beschwerdegegnerin von der Kostenpflicht

Ein weiteres Highlight folgt zum Schluss des Urteils. Das Bundesgericht entliess die unterliegende Beschwerdegegnerin von der Kostenpflicht, mit einem leichten Seitenhieb auf das Handelsgericht des Kantons Zürich und ohne Möglichkeit, den Kanton Zürich mit den Kosten zu belasten: «Es rechtfertigt sich, die Beschwerdegegnerin von der Kostenpflicht zu entlasten. In der vorliegenden, besonderen Konstellation hat ein von ihr nicht mitverschuldeter Verfahrensfehler des Handelsgerichts zur Gutheissung des Rechtsmittels geführt. Ausserdem wurde die Hauptverhandlung nicht von ihr, sondern von der Beschwerdeführerin verlangt. Auch hat die Beschwerdegegnerin im bundesgerichtlichen Verfahren auf eine Vernehmlassung verzichtet und keinen Antrag gestellt (einlässlich: Urteil 5A_932/2016 vom 24. Juli 2017 E. 2.2.4 mit zahlreichen Hinweisen; sodann etwa Urteil 4A_595/2019 vom 18. Februar 2020 E. 3.1 f.). Der Kanton Zürich darf nicht mit Gerichtskosten belastet werden (Art. 66 Abs. 4 BGG). Mithin erscheint es angebracht, auf die Erhebung von Kosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG) und den Kanton Zürich zu verurteilen, der obsiegenden Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen.» (E.7.).

Kommentar zum Urteil des Bundesgerichts 4A_180/2020 vom 6. Juli 2020

Bei diesem Urteil handelt es sich um ein wesentliches Leiturteil. Wesentlich aus verschiedenen Gründen. Neben den durch das Bundesgericht ausdrücklich entschiedenen Fragen ist es auch notwendig, zwischen den Zeilen des Urteils zu lesen.

Erstens ist es der erste höchstrichterliche Entscheid zu Besonderheiten von Gerichtsverhandlungen bzw. Justizverfahren während der COVID-19-Pandemie. Das Bundesgericht hatte hier aber eine Hauptverhandlung zu beurteilen, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung vom 20. März 2020 über den Stillstand der Fristen im Zivil- und Verwaltungsverfahren zur Aufrechterhaltung der Justiz im Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19) stattgefunden hat. Dennoch nahm sich das Bundesgericht Zeit, um auf die Verordnung einzugehen.

Zweitens betont das Bundesgericht das Legalitätsprinzip, wo Verfahren strikt nach der Verfahrensordnung, hier ging es um die ZPO, geführt werden müssen.  Eine mehr als deutliche Absage erteilt das Bundesgericht hier das „Richterrecht“. Diese kategorische Absage ist als grundsätzlich und alle möglichen Situationen anwendbar. Das bedeutet aber nicht, dass das Gericht die ZPO nicht auslegen darf bzw. sogar muss. Es darf sich hingegen kein Prozessrecht selber schaffen. Weiter lehnt das Bundesgericht die pauschale Berufung auf den „Pandemie“-Notstand ab.

Drittens enthält das Urteil verschiedene obiter dicta. Interessant sind die Ausführungen zu elektronischen Optionen in der ZPO. Und ebenso zur laufenden ZPO-Revision.

Eine zentrale Frage hatte das Bundesgericht hier nicht zu beantworten und ging auch nicht darauf ein. Können wesentliche Prozesshandlungen, welche auch immer den direkten Kontakt zwischen Menschen vor Gericht beinhalteten, wirklich durch elektronische Hilfsmittel ersetzt werden? Und wenn ja, welcher technische Standard muss hier vorausgesetzt werden. Hier geht es um viel mehr als „nur“ (das ist nicht abwertend gemeint) Datenschutz. Selbstverständlich muss der Datenschutz umfassend gewährleistet werden. Es geht u.a. darum, dass das Gericht im direkten Austausch mit Parteivertretern sein muss. Das Gericht muss auch z.B. Zeugen befragen und deren Glaubwürdigkeit einschätzen. Geht das mit einer Videoaufnahme per Handy?

Zu beachten ist weiter, dass die Hauptverhandlung i.S.v. Art. 228 ZPO von den folgenden Grundsätzen beherrscht wird: Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und volle Spruchkörperbesetzung. Im Zentrum bei Videokonferenzen steht das Thema, ob und wie dem Unmittelbarkeitsgrundsatz durch Videokonferenzen Gewähr geleistet werden kann. Denn der Unmittelbarkeitsgrundsatz besagt, dass das urteilende Gericht sich eine Überzeugung prinzipiell aufgrund seiner eigenen Anschauungen und Wahrnehmungen bilden soll, was namentlich auch für Beweisabnahmen gilt.

Von: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M.

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