Bundesgerichtsurteil vom 29. Juli 2019 (1C_495/2017): Grossratswahl im Kanton Graubünden nach Majorzverfahren – Beschwerde teilweise gutgeheissen

Mit Urteil vom vom 29. Juli 2019 (1C_495/2017) hat das Bundesgericht entschieden, dass das derzeit geltende Majorzverfahren für die Wahl des Grossen Rates im Kanton Graubünden zum grossen Teil, aber nicht in allen Belangen mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar ist. Vor der Bundesverfassung nicht standzuhalten vermag die Anwendung des Mehrheitswahlverfahrens im kleinsten Wahlkreis Avers und in den sechs bevölkerungsreichsten Wahlkreisen Chur, Fünf Dörfer, Oberengadin, Rhäzüns, Davos und Ilanz. Das Bundesgericht heisst die von mehreren Privatpersonen und Parteien erhobene Beschwerde teilweise gut.

Die Regierung des Kantons Graubünden hatte 2017 die Zahl der in jedem der 39 Wahlkreise zu wählenden Mitglieder des Grossen Rates (Kantonsparlament) für die Legislaturperiode 2018 bis 2022 festgelegt. Dagegen erhoben zahlreiche Privatpersonen und fünf Parteien Beschwerde beim Bundesgericht. Sie beantragen, das angewandte Mehrheitswahlsystem für verfassungswidrig zu erklären und die zuständigen Behörden zu verpflichten, im Hinblick auf die Grossratswahlen von 2022 eine verfassungskonforme Wahlordnung zu schaffen.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. Mit der in Artikel 34 Absatz 2 der Bundesverfassung (BV) garantierten Stimmkraftgleichheit nicht vereinbaren lässt sich die Grösse des kleinsten Wahlkreises Avers, der eine schweizerische Wohnbevölkerung von lediglich 160 Personen aufweist. Im Durchschnitt repräsentiert im Kanton Graubünden ein Mitglied des Grossen Rates 1342 Personen. Als minimale Grösse eines Wahlkreises ist von der Hälfte dieser Repräsentationsziffer auszugehen. Die von Artikel 34 Absatz 2 BV garantierte Erfolgswertgleichheit der Stimmen lässt sich im reinen Majorzwahlsystem zwar nicht erreichen. Denn sämtliche Stimmen für Kandidaten, die in einem Wahlkreis keine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können, bleiben bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt. Dies kann ausserdem dazu führen, dass die Parteien im Parlament eindeutig nicht gemäss ihrer Stärke vertreten sind. Das bedeutet indessen noch nicht, dass das Majorzprinzip mit der Bundesverfassung grundsätzlich unvereinbar ist. Bei gemischten Wahlsystemen (Majorz und Proporz) hat das Bundesgericht in früheren Entscheiden festgehalten, dass Majorzelemente unter anderem dann gerechtfertigt sein können, wenn in einem Wahlkreis die Parteizugehörigkeit eines Kandidaten gegenüber seiner Persönlichkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Von den 39 Wahlkreisen des Kantons Graubünden steht bei 32 die Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten für einen Grossteil der Bevölkerung im Vordergrund. Die Anwendung des Majorzprinzips in diesen Wahlkreisen hält vor der Bundesverfassung somit stand. Hingegen kann angesichts der Grösse der Bevölkerung in den sechs Wahlkreisen Chur, Fünf Dörfer, Oberengadin, Rhäzüns, Davos und Ilanz und der entsprechend grossen Zahl der dort zu vergebenden Sitze nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Kandidatinnen und Kandidaten einer Mehrzahl von Wählerinnen und Wählern persönlich bekannt sind. Vielmehr ist hier zumeist die Parteizugehörigkeit ausschlaggebend. Die Anwendung des Majorzprinzips lässt sich in diesen Wahlkreisen deshalb sachlich nicht rechtfertigen.

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