Bundesgericht: Weiterhin kein Teilnahmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch  

Im Urteil 1B_527/2019 vom 7. August 2020 bestätigte das Bundesgericht seine Praxis aus BGE 144 I 253. Die zwischen den beiden Urteilen des Bundesgerichts publizierte Dissertation von Thierry Urwyler konnte das Bundesgericht nicht umstimmen, auch wenn sie sehr viele gut begründete Argumente enthält, für ein Teilnehmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch. Die Beschwerde ans Bundesgericht erhob RA Kenad Melunovic Marini.

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Baden führt eine Strafuntersuchung gegen A. wegen des Verdachts der Drohung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Beschimpfung, Sachbeschädigung und Widerhandlung gegen das Waffengesetz. Er wurde am 1. Juli 2019 vorläufig festgenommen und mit Verfügung vom 4. Juli 2019 des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau (bis am 1. Oktober 2019) in Untersuchungshaft versetzt. Am 10. Juli 2019 beauftragte die Staatsanwaltschaft einen Sachverständigen mit der Erstellung eines forensich-psychiatrischen Kurzgutachtens („Gefährlichkeitsexpertise“) über den Beschuldigten.

Das Gesuch vom 8. Juli 2019 des amtlichen Verteidigers, es sei ihm die Teilnahme an der psychiatrischen Exploration zu ermöglichen, wies die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 11. Juli 2019 ab. Über die vom Beschuldigten dagegen erhobene Beschwerde entschied das Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, am 13. September 2019 ebenfalls abschlägig.

Der Verteidiger des Beschuldigten, Kenad Melunovic Marini, erhob dann Beschwerde an das Bundesgericht gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau.

Exkurs: Dissertation Thierry Urwyler

Die Dissertation von Thierry Urwyler ist 2019 im Schulthess-Verlag erschienen (ISBN 978-3-7255-8041-5) und trägt den Titel «Das Teilnahmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch des psychiatrischen Sachverständigen mit der beschuldigten Person im Lichte der EMRK»

Die Dissertation von Thierry Urwyler wird wie folgt vom Verlag beschrieben: „Darf die Verteidigung am Explorationsgespräch des psychiatrischen Sachverständigen mit der beschuldigten Person teilnehmen? Die bundesgerichtliche Antwort lautet: Nein, grundsätzlich nicht. Die Explorationsmethodik des psychiatrischen Sachverständigen wird geschützt, was im Regelfall zum Ausschluss der Verteidigung führt. Die vorliegende Arbeit analysiert den juristischen Status quo kritisch und kommt zum Ergebnis, dass unter den bestehenden verfahrensrechtlichen Bedingungen kein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 EMRK gewährleistet ist. Die konventionsrechtlich erforderliche Überprüfbarkeit des Sachverständigenbeweises sowie die Wahrung der Rechte der beschuldigten Person während der Exploration (insbesondere nemo tenetur) erfordern die audiovisuelle Aufzeichnung des Explorationsgesprächs sowie ein Teilnahmerecht der Verteidigung.

Thierry Urwyler dürfte auf den Moment gewartet haben, an welchem sich das Bundesgericht mit seinen Thesen wird befassen können. Dank RA Kenad Melunovic Mni und den Aargauer Strafbehörden und Strafgerichten war dies nun der Fall. Hier geht es zu unserer Buchbesprechung.

Ausführungen zu BGE 144 I 253

Das Bundesgericht fasste im Urteil nochmals das Leiturteil BGE 144 I 253, wie folgt zusammen:

«Das Verhör des Beschuldigten und die Beweisaussagen der Parteien erfüllen andere gesetzliche Funktionen als eine medizinisch-forensische Begutachtung. Bei ihren förmlichen Einvernahmen (Art. 157-161 StPO) erhält die beschuldigte Person auf allen Stufen des Strafverfahrens die Gelegenheit, sich zu den ihr vorgeworfenen Straftaten – im Sinne einer Beweisaussage als Partei – umfassend zu äussern (Art. 157 StPO). Diese Einlassungen im Verhör können der beschuldigten Person als Beweismittel vorgehalten werden. Die Verteidigung hat hier den gesetzlich gewährleisteten Anspruch, anwesend zu sein und nach den Befragungen Ergänzungsfragen zu stellen (Art. 158 f. i.V.m. Art. 147 StPO). Das Explorationsgespräch von forensisch-psychiatrischen Sachverständigen erfüllt demgegenüber einen anderen gesetzlichen Zweck. Es bildet Bestandteil der gutachterlichen Sachverhaltsermittlung und soll dem Experten ermöglichen, sich ein von den übrigen Verfahrensbeteiligten möglichst unbeeinflusstes Bild über die (laut Gutachtensauftrag) zu prüfenden medizinisch-psychiatrischen Fachfragen zu verschaffen (BGE 144 I 253 E. 3.7 S. 260; s.a. BGE 132 V 443 E. 3.5 S. 446 f.; 119 Ia 260 E. 6b-c S. 261-263). Die sachverständige Person nimmt ausschliesslich fachspezifische Erhebungen vor, „die mit dem Auftrag in engem Zusammenhang stehen“ (Art. 184 Abs. 4 StPO). Eine eigene Befragung des Beschuldigten durch die sachverständige Person ist somit eng gutachtensorientiert. Folglich dürfen die Strafbehörden Äusserungen des Beschuldigten bei einem psychiatrischen Explorationsgespräch diesem auch nicht wie Beweisaussagen zum inkriminierten Sachverhalt (im Verhör) vorhalten (BGE 144 I 253 E. 3.7 S. 260 f.; s.a. Botschaft StPO, BBl 2006 1212).  

Eine klare Unterscheidung dieser Untersuchungshandlungen drängt sich umso mehr auf, als beim psychiatrischen Explorationsgespräch die gesetzlichen Erfordernisse an ein justizkonformes Verhör des Beschuldigten regelmässig nicht erfüllt sind, etwa betreffend die Justizperson, welche zur Durchführung der Einvernahme berechtigt ist (Art. 142 StPO), die Teilnahmerechte der Verteidigung (Art. 147 und Art. 158 f. StPO), die Belehrungen über die Rechte des Beschuldigten (Art. 158 StPO) oder die gesetzlichen Protokollierungsvorschriften (Art. 143 Abs. 2 i.V.m. Art. 78 StPO). Für die Ausarbeitung des psychiatrischen Gutachtens (inklusive Explorationsgespräch und allenfalls weitere auftragsspezifische Erhebungen) ist die forensische sachverständige Person persönlich verantwortlich (Art. 185 Abs. 1 StPO). Das Gesetz sieht keinen Anspruch der Verteidigung oder anderer Parteivertreter vor, die Begutachtung (im Rahmen einer Anwesenheit bei der psychiatrischen Exploration des Beschuldigten oder gar mittels direkter Interventionen) unmittelbar zu „kontrollieren“ und zu ergänzen. Ein entsprechender gesetzlicher Anspruch ergibt sich auch nicht aus Art. 147 Abs. 1 StPO. Bei der fachlichen Exploration der beschuldigten Person durch den psychiatrischen Gutachter handelt es sich nicht um Beweiserhebungen „durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte“ (Wortlaut von Art. 147 Abs. 1 StPO). Dementsprechend sieht Art. 185 Abs. 5 StPO auch nur den Hinweis auf das Recht der beschuldigten Person vor, die Aussage gegenüber der sachverständigen Person zu verweigern, nicht aber – und dies im Gegensatz zu den Bestimmungen zum Verhör (Art. 158 Abs. 1 lit. c bzw. Art. 159 Abs. 1 StPO) – einen Hinweis auf das Recht zur Verbeiständung durch einen Verteidiger (BGE 144 I 253 E. 3.7 S. 261 f.).» (E.3.1.).

Das Bundesgericht fuhr anschliessend fort:

«Ein voraussetzungsloser Anspruch auf Zulassung der Verteidigung an der psychiatrischen Exploration lässt sich auch aus der Bundesverfassung (Art. 29 Abs. 1-2 und Art. 32 Abs. 2 BV) und der EMRK (Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 EMRK) nicht entnehmen. Ein entsprechendes Anwesenheits- und Mitwirkungsrecht (im Sinne von Art. 147 und Art. 158 f. StPO) bei der Erstellung des forensischen Gutachtens (Art. 185 StPO) könnte sich höchstens in sachlich begründeten Ausnahmefällen aufdrängen, falls die grundrechtlich garantierten Verteidigungs- und Gehörsrechte des Beschuldigten anders nicht wirksam wahrgenommen werden könnten (BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 262 und S. 264 f.). Nach der Praxis des Bundesgerichtes drängt sich dabei allerdings Zurückhaltung auf:  

Insbesondere ist der Gefahr Rechnung zu tragen, dass gesetzlich nicht vorgesehene direkte Einflussnahmen auf den psychiatrischen Expertisevorgang durch Personen, die nicht als Sachverständige bestellt wurden (zumal durch medizinisch nicht fachkundige Personen), den Zweck einer fachgerechten forensischen Begutachtung beeinträchtigen oder gar vereiteln könnten (BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 263; s.a. BGE 132 V 443 E. 3.5 S. 446 f.). Eine „parteiöffentliche“ Exploration würde die psychiatrische Begutachtung im Übrigen noch zusätzlich stark komplizieren und erschweren. Insbesondere wäre unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgebotes (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO) nur schwer zu begründen, weshalb ein entsprechendes „Teilnahmerecht“ dann nicht auch allen übrigen Parteien einzuräumen wäre, etwa den Rechtsvertretern der Privatklägerschaft sowie von allfälligen Mitbeschuldigten. Dies wiederum würde zu schweren Konflikten mit dem Persönlichkeitsschutz und der Menschenwürde der psychiatrisch zu begutachtenden Person führen (BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 263; s.a. BGE 132 V 443 E. 3.6 S. 447). 

Zudem wäre ein „Teilnahmerecht“ konsequenterweise auch auf alle übrigen selbstständigen Erhebungen des Gutachters (Art. 185 Abs. 4-5 StPO) auszudehnen. Solche Konsequenzen wären sachlich nicht vertretbar. Die strafprozessuale Begutachtung und insbesondere die auftragsspezifischen Sachverhaltsermittlungen des forensischen Gutachters erfolgen – nach der klaren gesetzlichen Regelung – weder parteiöffentlich, noch im Rahmen einer kontradiktorischen Parteiverhandlung: Im Falle einer förmlichen Einvernahme des Beschuldigten (durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gerichte) oder z.B. bei Augenscheinen der Strafbehörden wäre die Verteidigung durchaus berechtigt, bei der Beweiserhebung unmittelbar anwesend zu sein, die juristisch gesetzeskonforme Durchführung des Verhörs bzw. der Befragungen oder des Augenscheins zu kontrollieren und Ergänzungsfragen zu stellen (Art. 157-161 bzw. Art. 193 i.V.m. Art. 147 StPO). Nach einer gesetzeskonformen (kontradiktorischen) Ernennung und Instruktion der forensischen sachverständigen Person unter Teilnahme der Parteien (Art. 183-184 StPO) hat die Verteidigung auf materielle Begutachtungsvorgänge (Art. 185 StPO) durch die rechtsgültig ernannte medizinisch-psychiatrische Fachperson hingegen  bis zum Vorliegen der Expertise (Art. 187 StPO) keinen direkten Einfluss mehr zu nehmen. Der Verteidiger hat weder den fachlich-methodischen Ablauf der Expertise unmittelbar zu „kontrollieren“, noch die Exploration des Beschuldigten durch die sachverständige Person mit eigenen Fragen direkt zu ergänzen bzw. zu beeinflussen. Die Durchführung einer fachkonformen medizinisch-psychiatrischen Begutachtung ist vielmehr die Aufgabe der forensischen sachverständigen Person (vgl. Art. 185 Abs. 1 und Abs. 4-5 StPO).  Nach Vorliegen des Gutachtens steht es den Parteien frei, nötigenfalls Kritik am methodischen Vorgehen oder an den fachlichen Schlussfolgerungen des Gutachters im Rahmen ihrer gesetzlich vorgesehenen Stellungnahmen zu äussern und entsprechende Beweis- und Ergänzungsanträge zu stellen (Art. 188-189 und Art. 318 StPO). Auf die materielle Begutachtung selbst haben die Parteien aber – über das Dargelegte hinaus – keinen direkten Einfluss zu nehmen (BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 263 f.).» (E3.2.).

Rügen von RA Kenad Mwlunovic Marini mit Hinweis auf die Praxis des EGMR sowie die Dissertation Thierry Urwyler

Der Beschwerdeführer äusserte sich durch seinen RA Kenad Melunovic Marini wie folgt und brachte auch die Disseration von Thierry Urwyler ins Spiel:

«Der Beschwerdeführer räumt ein, dass sich der Leitentscheid BGE 144 I 253 sowohl mit den tangierten grundrechtlichen Verfahrensgarantien (Art. 29 und Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 EMRK) als auch mit Einwänden aus der einschlägigen Fachliteratur ausdrücklich befasst hat. Er stellt sich jedoch auf den Standpunkt, das Bundesgericht habe sich dabei mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nicht auseinandergesetzt. Ausserdem seien nach Erlass des Leitentscheides weitere kritische Stimmen der Doktrin laut geworden, insbesondere in einer Dissertation aus dem Jahre 2019.»

Ausführungen des Bundesgerichts zur Praxis des EGMR

Das Bundesgericht ging darauf wie folgt ein:

«Der Beschwerdeführer verweist zunächst auf Urteile des EGMR, wonach aus Artikel 6 Ziffer 3 lit. c EMRK ein grundrechtlicher Anspruch der beschuldigten Person und ihrer Rechtsvertretung fliesse, an der „Einvernahme von Zeugen und Auskunftspersonen“ und „bei der mündlichen Verhandlung“ mitzuwirken. Um solche spezifischen Mitwirkungsrechte (die schon in der StPO ausdrücklich verankert sind) geht es im vorliegenden Fall allerdings nicht. Weiter stellt sich der Beschwerdeführer zwar auf den Standpunkt, aus drei Urteilen des EGMR sei ein „ausnahmsloser“ grundrechtlicher Anspruch ableitbar auf Anwesenheit der Verteidigung bei „allen strafprozessualen Untersuchungshandlungen“, an welchen die beschuldigte Person teilnehmen muss. Eine Konsultation der fraglichen Entscheide zeigt jedoch, dass auch diese sich nicht mit der persönlichen Teilnahme der Verteidigung an psychiatrischen Explorationen der beschuldigten Person befassen, sondern mit dem rechtlichen Gehör von Angehörigen einer verstorbenen Patientin im Verwaltungsgerichtsverfahren (vgl. EGMR vom 18. März 1997 i.S.  Mantovanelli gegen Frankreich, Nr. 21497/93) bzw. mit dem Recht der Verteidigung auf kontradiktorische Instruktion (mit schriftlichen Ergänzungsfragen) und nachträgliche Befragung von medizinischen Sachverständigen, welche die Leiche bzw. den Körper von mutmasslichen Verbrechensopfern zu untersuchen hatten (vgl. EGMR vom 8. Januar 2009 i.S.  Laryagin und Aristov gegen Russland, Nrn. 38697/02 und 14711/03, Ziff. 43-45; EGMR vom 2. Juni 2005 i.S. Cottin gegen Belgien, Nr. 48386/99, Ziff. 29-33). Diese Entscheide befassen sich auch sonst nicht mit Untersuchungshandlungen, an denen die beschuldigte Person hätte teilnehmen müssen.» (E.4.1.).

Das Bundesgericht kommt zur Schlussfolgerung, dass sich aus den vom Beschwerdeführer aufgeführten Urteilen des EGMR kein Grundrecht auf eine voraussetzungslose Mitwirkung der Verteidigung an psychiatrischen Explorationsgesprächen ableiten lasse:

«Entgegen der Interpretation des Beschwerdeführers lässt sich aus den von ihm genannten Urteilen des EGMR kein Grundrecht auf (voraussetzungslose) Mitwirkung der Verteidigung an psychiatrischen Explorationsgesprächen ableiten.» (E.4.1.a.E.).

Ausführungen des Bundesgerichts zur Dissertation von Thierry Urwyler

Das Bundesgericht nahm wie folgt zur Dissertation von Thierry Urwyler Stellung:

«Im bundesgerichtlichen Leitentscheid wird sodann ausführlich auf die einschlägige Doktrin eingegangen. Dabei werden einzelne Lehrmeinungen erwähnt, welche einen gesetzlichen Anspruch auf Zulassung der Verteidigung zur gutachterlichen Exploration bejahen; gleichzeitig wird (unter Hinweis auf diverse Belegstellen) darauf hingewiesen, dass die überwiegende Lehre einen solchen Anspruch verneint (vgl. BGE 144 I 253 E. 3.3 S. 257 f.). Das Bundesgericht hat auch Lehrmeinungen mitberücksichtigt, welche sich für einen grundrechtlichen Mitwirkungsanspruch in besonderen Konstellationen aussprechen (vgl. BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 262).  

Der Beschwerdeführer macht geltend, der Autor einer unterdessen erschienenen Dissertation (Thierry Urwyler, Das Teilnahmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch des psychiatrischen Sachverständigen mit der beschuldigten Person im Lichte der EMRK, Diss. Luzern 2019) vertrete die Auffassung, es werde „klar“, dass die psychiatrische Exploration mit einem Teilnahmerecht der Verteidigung zu verbinden sei, wenn „man es mit den effektiven Menschenrechten und dem Prinzip des fairen Verfahrens ernst“ meine. Eine nachträgliche Überprüfung der Exploration sei nämlich „unmöglich“, und ohne Mitwirkung der Verteidigung bestünden für die beschuldigte Person „Selbstbelastungsgefahren“. „Zentral“ sei die Schlussfolgerung der Dissertation, wonach „die Methodenfreiheit der sachverständigen Person keinen Grund für den Verteidigerausschluss“ darstelle. „Noch wünschenswerter“ als eine Praxisänderung sei freilich (auch nach der Ansicht von Urwyler), „wenn der Gesetzgeber“ die fragliche Problematik erkennen und eine sachgerechte „Lösung in die Strafprozessordnung einfügen“ würde.» (E.4.2.)

Weiter erklärt das Bundesgericht:

«Auch daraus ergeben sich keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte, die eine Praxisänderung nahelegen würden. Mit den fraglichen grundrechtlichen Aspekten hat sich das Bundesgericht in BGE 144 I 253 ausdrücklich befasst. Insbesondere wurde im Leitentscheid erwogen, dass zwischen ärztlicher Begutachtung und Beweisaussagen der beschuldigten Person zu differenzieren ist. Selbstbelastende Äusserungen des Beschuldigten bei einem psychiatrischen Explorationsgespräch dürfen diesem nicht wie Beweisaussagen zum inkriminierten Sachverhalt im Verhör (Art. 157 StPO) vorgehalten werden (BGE 144 I 253 E. 3.7 S. 260 f.). Auch zu den gesetzlich verankerten Ansprüchen auf Ernennung und Instruktion der forensischen sachverständigen Person unter Teilnahme der Parteien (Art. 183-184 StPO) und auf kontradiktorische Überprüfung des Gutachtens (Art. 188-189 und Art. 318 StPO) äussert sich der Leitentscheid ausführlich (vgl. BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 263 f.). Der Beschwerdeführer setzt sich mit den betreffenden Erwägungen nicht erkennbar auseinander.»

Ablehnung einer Praxisänderung zu BGE 144 I 253 und Fälle mit qualifizierten Voraussetzungen

Das Bundesgericht verwirft im Urteil anschliessend ausdrücklich und mit klaren Worten eine Praxisänderung in Sachen Teilnahmerecht der Verteidigung am psychiatrischen Explorationsgespräch: «Nach dem Gesagten besteht (de lege lata) kein sachlicher Anlass, von den in BGE 144 I 253 entwickelten Grundsätzen abzuweichen.» (E.4.4.)

Mit dem Hinweis «de lege lata» teilt das Bundesgericht aber mit, dass der Weg einer Gesetzesänderung bzw. StPO-Revision natürlich eine gangbare Möglichkeit bleibt.

Das Bundesgericht liess aber auch die folgende Türe für Strafverteidiger offen: «In BGE 144 I 253 wurde ein auf die Bundesverfassung oder die EMRK gestützter Anspruch auf Zulassung des Offizialverteidigers zur psychiatrischen Exploration nur bei Vorliegen qualifizierter Voraussetzungen grundsätzlich bejaht.» (E.4.6.).

Weiterer Artikel:

Buchbesprechung: Thierry Urwyler „Das Teilnahmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch des psychatrischen Sachverständigen…“

 

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