Bundesgericht Urteil 6B_405/2020 vom 7. Juli 2020: Qualifizierte grobe Verkehrsregelverletzung

Im sehr interessanten Urteil 6B_405/2020 vom 7. Juli 2020 befasste sich das Bundesgericht mit einem BMW M6 Fahrer, der bei der Auffahrt auf die Autobahn den für die Rennstrecke bestimmten «M Dynamic Mode (MDM)» aktiviert hatte. Im Urteil des Bundesgerichts sind auch wichtige Ausführungen zu Gutachten im SVG-Bereich enthalten.

Dieses Urteil 6B_405/2020 vom 7. Juli 2020 ist eine absolute Pflichtlektüre für alle Anwältinnen und Anwälte, welche sich mit SVG-Delikten befassen.

Sachverhalt
Die Anklage wirft A. vor, am 20. September 2015 bei der Einfahrt Bubikon auf die Autobahn A 53 ins Schleudern geraten zu sein, weil er zuvor bei dem von ihm gelenkten Personenwagen BMW M6 das „Dynamische Stabilitäts Control (DSC) “ entweder ganz ausgeschaltet oder – wie zu seinen Gunsten angenommen werde – den für die Rennstrecke bestimmten „M Dynamic Mode (MDM) “ aktiviert habe. Als er sich auf dem Beschleunigungsstreifen vier Meter seitlich versetzt hinter dem auf der Normalspur fahrenden VW Sharan von B. befunden habe, habe er mit seinem Hochleistungsfahrzeug bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 130 km/h mit fast voll oder voll durchgetretenem Gaspedal beschleunigt. Als Folge davon seien ein oder zwei Hinterräder durchgedreht und sein Fahrzeug sei ins Schleudern geraten. Da A. nicht über das notwendige Fahrkönnen verfügt habe, um ohne das Stabilitätsprogramm ein derart extrem stark motorisiertes Auto sehr nahe an der physikalischen Limite zu beschleunigen, habe er die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren, sei nach links geraten und habe schleudernd seitlich rechts das Heck des von B. gelenkten VW Sharan getroffen. Der VW Sharan sei als Folge davon seitlich umgekippt und auf dem Dach ungefähr 100 Meter in Richtung Hinwil gerutscht. B. habe Verletzungen davongetragen. A. habe durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesfolgen auf sich genommen und somit den Tatbestand der qualifizierten groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 4a Abs. 1 lit. d VRV erfüllt. Die Anklage wirft A. sodann eine Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz vor.

Urteile der Vorinstanzen
Das Bezirksgericht Hinwil sprach A. mit Urteil vom 29. November 2018 im Sinne der Anklage der qualifizierten groben Verletzung der Verkehrsregeln und der Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz schuldig und bestrafte ihn mit 15 Monaten Freiheitsstrafe, unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie mit einer Busse von Fr. 500.–.

Gegen dieses Urteil erhob A. in der Folge Berufung und beantragte, er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Das Obergericht des Kantons Zürich sprach A. mit Urteil vom 28. Januar 2020 der qualifizierten groben Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 4a Abs. 1 lit. d VRV schuldig. Das Verfahren betreffend Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz stellte das Obergericht ein. Es bestrafte A. mit einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs für eine Probezeit von zwei Jahren.

Mit Beschwerde in Strafsachen gelangte dann A. an das Bundesgericht. A. macht geltend, der Entscheid der Vorinstanz verletze Bundesrecht und die EMRK. Verletzt sei die Unschuldsvermutung (Art. 10 Abs. 2 StPO) sowie das rechtliche Gehör und die Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Zudem verstosse der Entscheid gegen das Willkürverbot (Art. 9 BV).
Rügen gegen die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz
In seiner Beschwerde an das Bundesgericht brachte A. verschiedene Rügen gegen die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz, insbesondere im Zusammenhang mit dem Gutachten, vor. Er stellt aber das Gutachten als solches nicht in Frage (E.1.3. ff.).

Ausführungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht nimmt zu den diversen Rügen wie folgt Stellung:
«Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers geht die Vorinstanz nicht „aktenwidrig und willkürlich“ davon aus, dass er die sichergestellten Spuren und die Interpretation mit den durchdrehenden Rädern in Frage stelle. Vielmehr hält die Vorinstanz ausdrücklich fest, dass der Beschwerdeführer die Richtigkeit des Gutachtens anerkenne. Die Vorinstanz verkennt auch nicht die Argumentation des Beschwerdeführers, wonach er wegen eines sehr schnell fahrenden schwarzen Autos mit Heckspoiler erschrocken und deswegen ins Schleudern geraten sei. Die Vorinstanz hält fest, der Beschwerdeführer habe zunächst geltend gemacht, die festgestellten Spuren stammten nicht vom Durchdrehen der Räder wegen starken Beschleunigens, sondern rührten vom Schleudern beim Ausweichmanöver. Im Berufungsverfahren habe er neu vorgebracht, er habe beim Ausweichmanöver stark beschleunigen müssen, was zum Durchdrehen der Räder und zur entsprechenden Beschleunigungsspur geführt habe. Mit beiden Varianten der Sachdarstellung des Beschwerdeführers setzt sich die Vorinstanz auseinander. Die im Untersuchungsverfahren und vor Erstinstanz vom Beschwerdeführer gemachte Sachverhaltsvariante wurde dem Gutachter zur Stellungnahme unterbreitet. Der Einwand des Beschwerdeführers, seine Sachdarstellung sei dem Gutachter nicht zur Beurteilung unterbreitet worden, trifft somit nicht zu. Die Vorinstanz nimmt die Einwände des Beschwerdeführers sehr wohl zur Kenntnis und widerlegt seine Sachdarstellung willkürfrei einerseits gestützt auf das ergänzte Gutachten, anderseits gestützt auf das übrige Beweisergebnis. Sie hält fest, in den Ergänzungsgutachten widerlege der Gutachter die Behauptung des Beschwerdeführers, er sei mit nur 100 km/h in die Autobahneinfahrt gefahren, denn aus den gesicherten Spuren lasse sich zuverlässig die Geschwindigkeit von 130 km/h bei Beginn der Spur berechnen. Sodann entkräfte der Gutachter den noch vor Erstinstanz geltend gemachten Einwand des Beschwerdeführers, die sichergestellte Spur stamme nicht vom starken Beschleunigen, sondern sei die Folge seines Ausweichmanövers. Der Gutachter führe aus, das rechte Hinterrad habe eine breite Reifenspur erzeugt, was nur mit dem Durchdrehen der Räder bei starker Beschleunigung erklärt werden könne und erläutert, wie er zu dieser Schlussfolgerung gelangt (Maserung der Pneuspur und Breite der Aufstandsfläche des Reifens). Es sei gemäss Gutachten aufgrund des Spurenbildes eindeutig, dass der bereits mit 130 m/h fahrende Beschwerdeführer stark bis voll beschleunigt habe und deshalb ins Schleudern geraten sei. Die Vorinstanz stellt gestützt auf das Gutachten willkürfrei fest, dass die sichergestellte Spur vom sehr starken Beschleunigen des bereits zu Beginn mit 130 km/h fahrenden BMW M6 stammt. Ebenso wenig zu beanstanden ist die Feststellung der Vorinstanz, die im Berufungsverfahren neu vorgebrachte Sachverhaltsvariante des Beschwerdeführers stehe im Widerspruch zum Gutachten, da bei einem Ausweichmanöver der Beschwerdeführer eher gebremst oder bei gleichbleibender Geschwindigkeit nach rechts gelenkt und sicher nicht Vollgas gegeben hätte. Die Vorinstanz begründet somit nachvollziehbar und willkürfrei, weshalb die Sachdarstellung des Beschwerdeführers, er habe, nachdem er nach rechts ausgewichen sei, sehr stark beschleunigen müssen, um eine Kollision mit der Leitplanke zu vermeiden, was allenfalls zu den sichergestellten Spuren aufgrund des Durchdrehens der Räder geführt habe, unglaubwürdig sei.» (E.1.6.2.)

Weiter führt es aus:
«Die Vorinstanz hält willkürfrei fest, dass nicht auszuschliessen sei, dass ein schwarzes Fahrzeug mit Spoiler ebenfalls vor Ort gewesen sei, doch habe keine der befragten Personen die Sachdarstellung des Beschwerdeführers, er sei durch die Fahrweise des Lenkers des schwarzen Fahrzeugs zu einem Ausweichmanöver gedrängt worden, beobachtet. Zutreffend hält die Vorinstanz fest, die Zeugen F. und E. hätten keine entsprechenden Beobachtungen gemacht. Und die Zeugin D., die Beifahrerin im von E. gelenkten Fahrzeug, wolle gemäss ihrer ersten Befragung den Lenker des schwarzen Autos mit Spoiler vor ihnen auf der Normalspur gesehen haben, in der zweiten Einvernahme wolle sie dieses auf der Einfahrtspur gesehen haben. Dass der Beschwerdeführer von diesem bedrängt worden wäre, könne sie sich vorstellen, habe sie aber nicht gesehen. Welche konkreten Angaben die Vorinstanz dem Gutachter hätte liefern sollen, um die Geschwindigkeit und Fahrweise des schwarzen Autos mit Spoiler zu ermitteln, sagt der Beschwerdeführer nicht und ist auch nicht ersichtlich.» (E.1.6.3.)
Das Bundesgericht geht weiter auf die MDM-Modus des Fahrzeugs ein: «Entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers nimmt die Vorinstanz nicht lediglich gestützt auf die M6-Betriebsanleitung, ohne Abstützung auf das Gutachten, an, dass der Modus MDM nach jedem Motorstart abgeschaltet sei und der Beschwerdeführer ihn folglich aktiv habe einschalten müssen. Vielmehr stützt sich die Vorinstanz diesbezüglich willkürfrei explizit und unter Angabe der Zitatstelle im Gutachten auf die diesbezüglichen gutachterlichen Feststellungen. Der Gutachter hält unter Hinweis auf die M6-Betriebsanleitung fest, dass der Modus DSC, welcher die Fahrstabilität und Traktion optimiere, nach jedem Motorstart automatisch in Bereitschaft sei. Der Modus MDM sei ein auf die Rennstrecke abgestimmter Modus des DSC und erlaube auf trockener Fahrbahn ein Fahren mit höchstmöglicher Längs- und Querbeschleunigung, jedoch mit eingeschränkter Fahrstabilität. Der Modus MDM sei nach jedem Motorstart abgeschaltet. Da ein Durchdrehen der Räder beim BMW M6 beim allein eingeschalteten Modus DSC nicht möglich sei, sei die zwingende Folge, dass der Beschwerdeführer zumindest den Modus MDM aktiviert habe, falls er nicht sogar das DSC ausgeschaltet habe. Entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers erwähnt der Gutachter nicht „mögliche technische Defekte“, sondern hält im Gegenteil fest, dass solche nach seinem Kenntnisstand nicht vorgetragen worden seien. Die Feststellung der Vorinstanz, es lägen keine Anhaltspunkte für allfällige technische Defekte am – erst zwei oder drei Wochen zuvor vom Beschwerdeführer geleasten – Fahrzeug vor, ist nicht zu beanstanden.» (E.1.6.4.).

Das Bundesgericht kommt schliesslich zur folgenden Konklusion:
«Es ist nicht willkürlich und verletzt nicht die Unschuldsvermutung, wenn die Vorinstanz angesichts der sorgfältig gewürdigten Beweise zum Schluss kommt, dass der Beschwerdeführer mit dem BMW M6 auf der Autobahneinfahrt bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h sehr stark beschleunigt hatte und weil mindestens der Modus MDM aktiviert war und der Beschwerdeführer als Fahrer keine ausreichende Erfahrung hatte, um den BMW M6 im Modus MDM zu lenken, ins Schleudern geraten war und als Folge davon den VW Sharan seitlich hinten rechts getroffen hatte. Die Rügen des Beschwerdeführers erweisen sich als unbehelflich.» (E.1.6.5.).

Kommentar zum Urteil
Das vorliegende Urteil 6B_405/2020 vom 7. Juli 2020 zeigt in allgemeiner Art und Weise auf, wie schwierig Beschwerden in Strafsachen an das Bundesgericht sind, wenn es «nur» um den Sachverhalt geht und nicht (auch) um Rechtsfragen. Die Vorinstanz war ja auch noch das Obergericht des Kantons Zürich.

Aus der SVG-Optik ist das Urteil dahingehend interessant, da es einen tiefen Einblick in die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz und die Bedeutung von Gutachten im SVG gibt.

Schliesslich ist die Lektüre des Urteils natürlich ein Muss für alle Fahrerinnen und Fahrer von sportlichen M-Modellen von BMW.

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